Das Rote Wien

Als die Sozialdemokraten in Wien 1923 die Regierung übernahmen, begann unter Bürgermeister Karl Seitz eine großangelegte Umstrukturierung der Verwaltung, des öffentlichen Lebens und der Kultur nach sozialistischen Gesichtspunkten. Eines der Kernstücke des "Roten Wien",wie dieses Projekt bald genannt wurde, war die Wohnbaureform. Am 21. September 1923 wurde im Wiener Gemeinderat ein forciertes Bauprogramm beschlossen. Ab 1924 sollten jährlich 5.000 Kleinwohnungen errichtet werden. Im Mai 1927 sah man das Plansoll erfüllt und beschloss den weiteren Bau von 6.000 Wohnungen und 5.257 Siedlungshäusern. Bei der Konzeption der Bauten legte man besonderen Wert auf große Grünanlagen, Sozial- und Gemeinschaftseinrichtungen: Kindergärten, Lesesäle, Zentralwaschküchen, Einkaufsmöglichkeiten, Freibäder und Kinos. (vgl. Kapner 1982, 250-255 und Weihsmann1985, pass.)

Otto Bauer, wichtiger sozialistischer Theoretiker der Vorkriegszeit, formulierte im sogenannten "Linzer Programm" des Jahres 1926 das Ziel der neuen Politik. Man wollte mit einer geschulten, disziplinierten und klassenbewussten Arbeiterschaft dem Kapitalismus entgegentreten. Das "Rote Wien" mit seinen zahlreichen Organisationen, die untereinander in Wechselwirkung standen, war dabei ein gegenkulturelles Netzwerk, das mithelfen konnte, den "Neuen Menschen" zu schaffen. Der von Bauer propagierte Austromarxismus sollte ein Mittelweg zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus sein. Bauer entwickelte in Anlehnung an Friedrich Engels die Theorie des "Gleichgewichts des Klassenkampfs", was bedeutete, dass eine Klasse nicht ohne die zumindest stillschweigende Zustimmung der anderen regieren könne.

Um die Idee des "neuen Menschen" in die Wirklichkeit umzusetzen, wurde neben der Wohnungsnot auch die mangelnde Bildung des Proletariats bekämpft. In diesem Zusammenhang ist der Name Otto Glöckel, damals Stadtschulpräsident in Wien, zu nennen.(vgl. Mendel 1982, 256-259) Die schlechte gesundheitliche Versorgung der Arbeiter bekämpfte Julius Tandler. Er ging von einem natürlichen Recht des Menschen auf Sozialfürsorge aus und beschäftigte sich vorwiegend mit der Jugendfürsorge. Ziel war die Hebung der Geburtenrate. Deshalb führte man auch die ärztliche Beratung für Frauen und Mütter ein, setzte hohe Standards im Bereich der Säuglings- und Kinderpflege, der Hygiene usw. Wie alle modernen Fürsorgesysteme war auch dieses von einem gewissen Grad der Überwachung und Disziplinierung gekennzeichnet.

Finanziert wurde das neue System des Zusammenlebens durch eine progressive Steuerpolitik. Finanzstadtrat Hugo Breitner führte eine zweckgebundene Wohnbausteuer ein. Eine Umstrukturierung der Volkswirtschaft sollte eine Ausweitung des kommunalen Bereiches zur Folge haben. Der Konsum von Luxusgütern wurde hoch besteuert, und der ausländische Anlagemarkt zugunsten der lokalen Industrie zurückgedrängt.

Der konservativ-katholischen Regierung Dollfuß war das "Rote Wien" naturgemäß ein Stachel im Fleisch. An Mussolini schrieb Dollfuß am 22. Juni 1933, dass er den Marxisten die finanziellen Mittel, die sie zu diesem großen Einfluss in Wien befähigten, massiv gekürzt habe. Das hatte er schon im September 1932 mittels eines staatlichen Eingriffs getan. Der kommunale Wohnbau kam damit zum Erliegen. (vgl. Maimann 1981, pass.)

Auch die Entwicklung am Arbeitsmarkt stellte das weitere Gelingen des sozialistischen Projekts in Frage. Gab es während der Konjunkturjahre 1927-1929 eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von 9 Prozent, so stieg die Quote 1933 auf über 38 Prozent. Die Industriearbeiter traf es mit einer Arbeitslosenraten von 44, 5 Prozent im Jahr 1934 noch härter. Eine Verarmung der Massen setzte ein. Dauerarbeitslosigkeit wurde zu einem Massenphänomen. Dem hatte weder die rechte noch die linke "Reichshälfte" allzuviel entgegenzusetzen. (vgl. Tálos u. a .1955, 180 ff.)

Tálos u. a. orten noch weitere Gründe für das Scheitern des österreichischen Sozialismus in der Ersten Republik, und zwar in den divergierenden Auffassungen über die kulturellen Maßstäbe, die eine Arbeiterkultur zu erfüllen habe. Das wiege um so schwerer, als sich die Sozialdemokratie immer auf ein Zusammenspiel von Kultur und Politik als einem zentralen Bereich ihrer politischen Strategie berufen habe.

"[?] kulturell gewachsene und existierende Arbeitersubkultur sowie populärkulturelle Formen wurden bekämpft oder verächtlich gemacht, [?] Der sich entwickelnden kommerziellen Massenkultur - die einen immer bedeutenderen Stellenwert in der Arbeiterfreizeit einnahm - stand die Parteiführung größtenteils verständnislos gegenüber." (Tálos 1955, 187)

Zu den erwähnenswerten kulturellen Leistungen zählen die Massenspiele, die die Sozialisten Anfang der dreißiger Jahre im Wiener Stadion durchführten. Zu Eröffnung der Arbeiterolympiade 1931 wurde die Entwicklungsgeschichte des Arbeiters seit dem Mittelalter gezeigt. Es spielten etwa 4000 Darsteller. Am Ende des Spiels krachte ein in der Mitte des Stadions aufgestellter Kapitalistenkopf in sich zusammen. Das Spiel wurde mit dem Absingen der "Internationale" beendet. Tálos u. a. sehen darin ein "Symbol für revolutionären Idealismus ebenso wie für puritanische Nüchternheit des Industriezeitalters." Das Leitbild des schönen, starken, gebildeten, kollektiven Menschen sollte in diesen ästhetisch überhöhten Massenfestspielen zum Ausdruck kommen.

Das Ende des "Roten Wien" kam gleichzeitig mit dem Ende der Ersten Republik. Dollfuß nahm am 4. März 1933 einen Formfehler des Nationalrates zum Anlass und löste das Parlament auf. Der sozialdemokratische Schutzbund wurde aufgelöst, die Kommunistische Partei Österreichs verboten, Zeitungen wurden mit Zensur belegt, ein Versammlungsverbot eingeführt. In den Arbeiteraufständen des Jahres 1934 schlug die Heimwehr und das Innenministerium unter Minister Fey den bewaffneten Widerstand der Sozialdemokratie blutig nieder. (vgl. Weihsmann 1989, 231-242)

 

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Forschungsliteratur:

Portisch, Hugo: Österreich I - die unterschätzte Republik (Kremayr & Scheriau, 1989) zeigen

Weihsmann, Helmut: Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919 - 1934 (promedia , 1985) zeigen

 

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