Spiel, Hilde
* 1911-10-19 Wien (A)
† 1990-11-30 Wien (A)

Hilde Spiel wurde am 19. Oktober 1911 in Wien geboren. Sie wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Ihr Vater Hugo F. Spiel war Ingenieur und technischer Wissenschaftler. Nach dem Besuch des Realgymnasiums in Wien wechselte Sp. an die Reformschule der Eugenie Schwarzwald. An der Schwarzwaldschule unterrichteten u. a. Arnold Schönberg, Adolf Loos und Oskar Kokoschka. "In ihrer Schule beginnt denn meine Menschwerdung, spinnen sich lebenslange Freundschaften an", schreibt Sp. in ihren Erinnerungen. In dieser Zeit lernte sie auch Fritz Thorn und Fritz Kantor (Psd. Friedrich Torberg) kennen. Mit Thorn verband sie später eine lange Freundschaft, mit Torberg eine beinahe ebenso lange Feindschaft.

1928, also mit siebzehn, debütierte Sp. in der Wiener Kaffeehausszene. Im Café Herrenhof traf sie auf Ernst Polak, den Zeichner und Ringer Ernst Stern, Karl Kraus u. a. 1929 erschien die erste Kurzgeschichte "Der kleine Bub Desider" in der Jugendbeilage der "Neuen Freien Presse". Ab 1930 studierte Sp. Psychologie bei Charlotte und Karl Bühler sowie Philosophie bei Moritz Schlick, dem Hauptvertreter des "Wiener Kreises". Neben ihrem Studium arbeitet sie an der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle der Universität (1931/34), die von Paul Lazarsfeld gegründet worden war, kam dort in Kontakt mit dem "Roten Wien" und wurde 1933 Mitglied der Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP).

1933 erschien ihr erster Roman "Kati auf der Brücke". Für diese im Wiener Literatenmilieu spielende Geschichte erhielt sie 1934 den "Julius Reich Preis". Die Niederschlagung des Arbeiteraufstandes 1934 in Wien war der erste Anlass für Sp., sich ernsthaft mit dem Gedanken des Exils zu befassen. Während sie an ihrer Dissertation arbeitet, wurde sie immer wieder Zeugin von politischen Krawallen an der Universität. Im selben Jahr, in dem Sp. promovierte, gab ihr die Ermordung von Moritz Schlick am 22. Juni 1936 den endgültigen Anstoß, Österreich zu verlassen.

1936 schloss Sp. also ihr Studium ab. Sie heiratete den Schriftsteller Peter de Mendelssohn und emigrierte mit ihm nach London. De Mendelssohn wurde der Londoner Vertreter der von Prinz Hubertus zu Löwenstein-Wertheim-Freudenberg gegründeten "American Guild for German Freedom". Sp. gelang die Veröffentlichung einiger ihrer Erzählungen (von ihrem Mann übersetzt) im "Daily Express". 1938 holte sie ihre Eltern ebenfalls nach Großbritannien. Ihre in Österreich gebliebene Großmutter Melanie wurde im KZ Theresienstadt ermordet.

1939 erschien Sp.s erster in englischer Sprache geschriebener Roman "Flute and Drums" (dt. Titel "Flöte und Trommeln", 1947). 1941 erhielt sie die britische Staatsbürgerschaft. Ein Jahr nach Ende des 2. Weltkrieges (Jänner und Feber 1946) kehrte sie als Kriegsberichterstatterin des "New Statesman" nach Wien zurück ("Rückkehr nach Wien. Tagebuch 1946", 1968). Zwischen November 1946 und Sommer 1948 arbeitete sie in Berlin. 1947 wurde sie Theaterkritikerin für "Die Welt", wo auch ihr Mann tätig war. Zudem schrieb sie für "The New Statesman and Nation", "La France Libre", den Berliner "Tagesspiegel" und die Wochenzeitschrift "sie". 1948 fiel die vorläufig endgültige Entscheidung für ihre Rückkehr in ihr Londoner Exil. Sp. hoffte, in der britischen Gesellschaft als Britin akzeptiert zu werden. Diese Hoffnung sollte sich aber als trügerisch erweisen: Sp. lebte zwischen den beiden Ländern und zwischen den beiden Kulturen. Sie nahm eine Stelle als Kulturkorrespondentin der "Neuen Zeitung" in London an. In den nächsten Jahrzehnten entstanden viele beachtenswerte journalistische und essayistische Arbeiten, die zum Teil in den Bänden "Welt im Widerschein" (1960) und "In meinem Garten schlendernd" (1981) zusammengefasst sind. 1961 erschien der Roman "The Darkened Room" (dt. 1965 "Lisas Zimmer), der sich mit dem Exil in den USA auseinandersetzt und exemplarisch die Entwurzelung der Flüchtlinge zeigt. Als eines ihrer wichtigsten Werke gilt die Biographie "Fanny Arnstein oder Die Emanzipation" (1962). Diese Biographie ist zugleich eine genaue Schilderung der Zeitumstände Wiens um 1800. An der Person der Jüdin Fanny Arnstein, die einen literarischen Salon gründet, wird die beginnende Emanzipation der Frauen dargestellt.

1954 erwarb Sp. gemeinsam mit ihrem Mann ein Haus am Wolfgangsee. Damit war ein Schritt getan, der die endgültige Rückkehr nach Österreich vorbereitete. Zunächst verbrachte man aber nur die Winterferien und die Sommerfrische hier. 1963 kam es zur Trennung, 1970 zur Scheidung von ihrem Mann Peter de Mendelssohn. Sp. kehrte nach Wien zurück und lebte mit ihrem langjährigen Freund Hans Flesch-Brunningen zusammen, den sie 1972 heiratete. 1963 erhielt sie einen Vertrag mit der "FAZ", für die sie bis Mitte der 80er Jahre die Kulturberichterstattung aus Wien besorgte. Sp. intensivierte ihre journalistische Arbeit, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. In den Jahren 1963 bis 1970 arbeitete sie für den "Guardian"; zwischen 1963 und 1972 für die "Weltwoche" (Zürich) und zwischen 1964 und 1975 für "Theater heute".

In den folgenden Jahren machte sich Sp. auch als Vermittlerin zwischen der englischen und der österreichischen Literatur verdient. Sie übersetzte u. a. Tom Stoppard und James Sanders. 1966 übernahm sie die Funktion der Generalsekretärin des österreichischen PEN-Klubs. 1971 wurde sie Präsidentin der IG-Autoren, 1972 Vize-Präsidentin des Österreichischen PEN, den sie 1988 jedoch wieder verließ.

1982 verbrachte Sp. noch einmal ein Jahr im Auftrag der "FAZ" in London. Danach kehrte sie wieder nach Wien zurück. In den letzten beiden Jahren vor ihrem Tod erschienen die beiden Erinnerungsbände "Die hellen und die finsteren Zeiten" (1989) und "Welche Welt ist meine Welt?" (1990). Sp. starb am 30. November 1990 und wurde in Bad Ischl beigesetzt.

Bearbeitet von Wilhelm Kuehs, Klagenfurt.

 

Links zu anderen Lexikonartikeln:

Flesch-Brunningen, Hans zeigen

Lazarsfeld, Paul zeigen

Schlick, Moritz zeigen

Kokoschka, Oskar zeigen

Loos, Adolf zeigen

Mendelssohn, Peter de zeigen

Torberg, Friedrich zeigen

Kraus, Karl zeigen

Schwarzwald , Eugenie zeigen

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Multimedialinks:

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Exilliteratur (Dokumentationsstelle für Österreichische Literatur) zeigen

RESEARCH CENTRE FOR GERMAN AND AUSTRIAN EXILE STUDIES, University of London zeigen

Schlick, Moritz: Erinnerung an M. Schlick zeigen

Theodor Kramer Gesellschaft zeigen

 

Werkverzeichnis:

Anna und Anna (1990) zeigen

Anna und Anna (1988) zeigen

Anna und Anna. Flüchten oder hinnehmen (1989) zeigen

Briefwechsel (1995) zeigen

Das Haus des Dichters (List, 1992) zeigen

Das vertauschte Werkzeug. Schriftsteller in zwei Sprachen (1973) zeigen

Der Baumfrevel. Neues Kapitel aus einem ungeschriebenen Buch (1987) zeigen

Der Mann mit der Pelerine und andere Geschichten (1985) zeigen

Der Park und die Wildnis. Zur Situation der neueren englischen Literatur (1953) zeigen

Der Wiener Kongress in Augenzeugenberichten (1965) zeigen

Die Dämonie der Gemütlichkeit. Glossen zur Zeit und andere Prosa (List, 1991) zeigen

Die Früchte des Wohlstands (Nymphenburger Verlagsbuchhandlung , 1981) zeigen

Die hellen und die finsteren Zeiten - Erinnerungen 1911 - 1946 (List, 1989) zeigen

Die Welt im Widerschein (Beck, 1960) zeigen

Englische Ansichten, Berichte aus Kultur, Geschichte und Politik (Deutsche Verlagsanstalt, 1984) zeigen

Fanny Arnstein oder die Emanzipation (S. Fischer, 1962) zeigen

Fanny von Arnstein (1991) zeigen

Flöten und Trommeln (Wiener Verlag, 1947) zeigen

Flute and Drums (1939) zeigen

Frühe Tage, Kati auf der Brücke, Verwirrung am Wolfgangsee (1986) zeigen

Kati auf der Brücke (1933) zeigen

Lisas Zimmer (Nymphenburger, 1982) zeigen

London. Stadt, Menschen, Augenblicke (1956) zeigen

Psychologie des Exils (1977) zeigen

Rückkehr nach Wien. Tagebuch 1946 (Nymphenburger , 1968) zeigen

Rückkehr nach Wien - Ein Tagebuch (Nymphenburger, 1996) zeigen

Sir Laurence Olivier (1958) zeigen

Über Theodor Kramer (1983) zeigen

Verwirrung am Wolfgangsee (1935) zeigen

Vienna's Golden Autumn. 1866 - 1938 (Weidenfeld and Nicolson , 1987) zeigen

Welche Welt ist meine Welt? - Erinnerungen 1946 - 1989 (1990) zeigen

Welt im Widerschein (1960) zeigen

Zentrum im Wiener Kreis (1992) zeigen

 

Nachlaß:

Rückkehr nach Wien - Ein Tagebuch (Nymphenburger, 1996) zeigen

 

Forschungsliteratur:

Heid, Ludger "Was der Jude glaubt ist einerlei ..." - Der Rassenantisemitismus in Deutschland (1995) zeigen

Moser, Jonny Der Antisemitismus der Deutschnationalen in Österreich (1995) zeigen

Patsch, Sylvia Österreichische Schriftsteller im Exil in Großbritannien (Brandstätter, 1985) zeigen

Strickhausen, Waldtraud Die Erzählerin Hilde Spiel oder "Der weite Wurf in die Finsternis." (1996) zeigen

 

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