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KAPITEL

1. Jura Soyfer: Das Dachaulied
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2. Theodor Kramer: Der Ofen von Lublin (22.8. 1944)
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3. Fred Wander: Der Siebente Brunnen. Erzählung
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4. Fred Wander: Gesichter (Kap. XI). In: Der siebente Brunnen. Erzählung (1972)
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5. Anhang
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Herbert Staud:
Holocaust und Literatur


Fred Wander bezeichnete sein Werk "Der siebente Brunnen" (1972) als "Erzählung". Bemerkenswert ist, dass der Autor an den Beginn seiner Erzählung die Thematik des Erzählens selbst rückt. Sofort wird klar, dass das Erinnern an die KZ-Zeit sowie Inhalt und Form des Erzählens darüber von entscheidender Bedeutung sind. Der Erzähler fragt seinen Mithäftling Mendel Teichmann, "wie man eine Geschichte erzählt". So lautet auch die Überschrift des ersten Kapitels. Gleichzeitig erzählt er selbst über das schreckliche Lebensschicksal des jüdischen Lagergenossen Mendel Teichmann.

Fred Wanders Erzählung "Der siebente Brunnen" ist nicht nur eine aufrüttelnde Erinnerung an das KZ, sondern markiert mit dem Datum des Erscheinens Anfang der 1970er Jahre auch einen Bruch mit dem Schweigen über "Auschwitz", auch bei den KZ-Insassen selbst.

I. Wie man eine Geschichte erzählt

"Drei Wochen nach dem Gespräch, von dem ich nun berichten werde, sollte Mendel sterben. Natürlich konnte ich das damals nicht wissen, noch weniger er selbst, obwohl er zu jener Zeit schon sehr geschwächt war. Aber noch immer hatte er seine äußerste Konzentration auf das Betrachten menschlichen Verhaltens gelenkt, überschüttete er uns, auf dem Holzplatz, beim Abladen von Baumstämmen oder auf dem Marsch, mit glühenden Schmähungen, Flüchen, Verherrlichungen der Schönheit, mit seinen zu Versen geschmiedeten düsteren Prophezeiungen, Wortergüssen, mit seinem Stolz. - Einmal, als ihn einer unserer Wächter mit einem Kübel Wasser übergoss, weil er stehend eingenickt war, beim Schichten von Holz, vor Müdigkeit und Schwäche, und die Gestiefelten schallend lachten (es fror an diesem Tag, die Posten waren in Schafpelze gekleidet, hatten von Sattheit und Wärme rote Wangen), da streckte sich Mendel, sein nasses graues Haar klebte in der Stirn, die Augen lugten scharf darunter hervor, nicht hassend oder klagend, sondern gespannt. Was tut dieser Mensch, fragten die Augen."

"An jedem zweiten Sonntagnachmittag (wir hatten nur zwei Ruhetage im Monat) pflegte Mendel Geschichten zu erzählen. In der Essenbaracke versammelten sie sich. Juden aus Warschau, Sosnowiec und Krakau, fasziniert vom Wort. Das Wort hatte magische Kräfte, es zauberte eine reichgedeckte Sabbattafel herbei, die Lieblichkeit eines jüdischen Mädchens, Duft von süßem Palästinawein und Rosinenkuchen, verlorne schöne Welt. Das Wort, kaum dass es erklang, machte die Männer erbleichen, es verwandelte sie, kehrte ihre Blicke nach innen, ließ sie Tränen vergießen und lachen, geißelte sie, ließ sie ächzen und sogar schwitzen. Der Meister des Wortes jedoch, dieser Zauberer, Mendel Teichmann, vielleicht fünfzig Jahre alt, groß, hager und innerlich brennend, stand vor ihnen auf einer Bank, redete und gestikulierte." (Wander 1994, 7 f.)

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Alltag im Ghetto. Warschau 1939-1943 (Teil 2) zeigen

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