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KAPITEL

1. Überblick über die Situation der österreichischen Exilforschung
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2. Die Jahre 1933 und 1934
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3. Politische Orientierung der Exilanten nach der Massenemigration 1938
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4. Das "andere Österreich" - die Kontroverse zwischen Lothar und Viertel
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5. Anhang
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Johann Holzner:
Österreichische Literatur im Exil


So kam es, dass erst in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 eine weitere, die größte Fluchtwelle einsetzte: die Massenemigration nach dem "Anschluss".

Schon aus den besonderen Voraussetzungen dieser Massenemigration verbietet sich jeder Versuch, die österreichische Literatur im Exil als einen in sich konsistenten Verbund, das 'andere Österreich' als eine Gemeinschaft zu betrachten; diese 'Gemeinschaft' war weder auf ihre Oppositionsstellung gegen den Nationalsozialismus noch auf die Projektion der Wiederherstellung eines freien und unabhängigen demokratischen österreichischen Staates von vornherein eingeschworen. Denn auch führende Repräsentanten des Ständestaates, an ihrer Spitze Zernatto, der Präsident des "Verbandes katholischer deutscher Schriftsteller", mussten in der Umsturznacht flüchten, gemeinsam mit jenen Autorinnen und Autoren, die sie selbst in der Schuschnigg-Ära an den Rand gedrückt hatten, während umgekehrt die meisten der unterm Austrofaschismus geförderten Schriftsteller im Dritten Reich gleich neue Arbeitsgarantien erhielten. Demnach gingen nicht wenige, die vor dem "Anschluss" miteinander verbunden waren, jetzt getrennte Wege; und viele, die jetzt vielleicht gemeinsam Wien verließen, waren durch nichts miteinander verbunden. In keiner der diversen Stationen des Exils wurde der lang schon vorher entzündete politische Streit beigelegt.

Die Lagermentalität war nicht über Nacht zu überwinden; mühsam zugeschüttete Gräben wie die zwischen dem österreichisch-katholischen und dem deutsch-nationalen Lager (vgl. Amann 1988), brachen im Gegenteil wieder auf. Was die beiden großen Lager einander nahe gebracht hatte, ihr Antisozialismus und ihr Antisemitismus, auch die Angst vor den Erschütterungen der Moderne, die in der für beide charakteristischen Neigung zu den Stilprinzipien der literarischen Antimoderne ihren Ausdruck fand (vgl. Müller 1990), das alles verhinderte weiterhin jedes Zusammengehen mit den ehemaligen Mitgliedern der "Vereinigung sozialistischer Schriftsteller", auch wenn deren Kulturverständnis von dem des Katholizismus sich manchmal nur durch das politische Vorzeichen unterschieden hatte; und es schloss auch im Exil eine Solidarisierung mit den jüdischen Autorinnen und Autoren aus. Deren Erfahrungen sammelte authentisch, in einem unnachahmlichen bestimmt-verstimmten Ton das lyrische Ich der Gedichte Theodor Kramers:

"Von dem, was einmal war, trennt lang schon mich ein Riß;/daß alles ungewiß ist, ist allein gewiß./Die Maus selbst hat ihr Loch; wenn sie nicht nisten, ziehn/die Stare [...] nur der Mensch lebt so im Nichts dahin."

Kramer, Theodor zeigen

Es gibt also gute Gründe dafür, dass die österreichische Literaturwissenschaft den von Elisabeth Freundlich auf dem ersten "Internationalen Symposium zur Erforschung des österreichischen Exils" (1975) vorgebrachten Vorschlag, die Werke von Broch, Canetti, Horváth, Musil oder Joseph Roth nicht länger als herausragende Einzelerscheinungen, vielmehr im Kontext der 'Humanistischen Front' darzustellen, nie aufgenommen hat. Sie hat sich seither jedoch bemüht, in vielen Einzelstudien das Dickicht dieses Exils zu rekonstruieren, die Konturen der berühmten, aber auch die von oft gänzlich vergessenen Autorinnen und Autoren sichtbar zu machen und darüber hinaus die Literatur des Exils nicht in ein abgeschlossenes Prunkgemach der Literaturgeschichte zu verbannen, sondern im Spannungsfeld der nachfolgenden literarischen Generationen zu beleuchten; hier sei nur auf die Buchreihe "Antifaschistische Literatur und Exilliteratur - Studien und Texte" verwiesen, außerdem auf die Zeitschrift der Theodor-Kramer-Gesellschaft "Mit der Ziehharmonika" (seit 2000 "Zwischenwelt"), das bedeutendste österreichische Periodikum für die Literatur des Exils und des Widerstands.

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