zurück zum Inhaltsverzeichnis

KAPITEL

1. Palästina/Israel - ein "Exilland"?
anzeigen

2. Moshe Ya'akov Ben-Gavriêl
anzeigen

3. Meir Marcell Faerber
anzeigen

4. Simon Kronberg
anzeigen

5. Max Brod
anzeigen

6. Max Zweig
anzeigen

7. Leo Perutz
anzeigen

8. Anna Maria Jokl
anzeigen

9. Elazar Benyoëtz
anzeigen

10. Anhang
anzeigen

 

Armin A. Wallas:
"Exilland" Palästina/Israel


Die Psychologin, Schriftstellerin und Übersetzerin Anna Maria Jokl gehört zu jenen Einwanderern, die Israel erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Aufenthaltsort wählten. 1965 kam sie nach Jerusalem. Das Leben in Israel bezeichnete sie als ihr "sechstes Leben" - als sechste Station ihrer Wirkungsstätten, Exil- und Remigrationsorte. Gebürtig aus Wien, hielt sie sich in der Zwischenkriegszeit in Berlin auf, wo sie als Journalistin, Drehbuchautorin und Dramaturgin zu arbeiten begann. Nach der Machtergreifung Hitlers flüchtete sie nach Prag; als die Tschechoslowakei 1939 der deutschen Expansion zum Opfer fiel, emigrierte sie nach London. 1950 ging sie nach Ostberlin, von wo sie aber nach wenigen Monaten von der Fremdenpolizei ausgewiesen wurde. Daraufhin siedelte sie sich in Westberlin an, wo sie als Psychologin unter anderem mit der Therapie von Kindern von Shoah-Opfern, aber auch von Kindern von Tätern befasst war. Schließlich wanderte sie nach Israel aus.

Jokl, Anna Maria in Jerusalem (1968) zeigen

Jokls Lebenskonzept beruht auf der Integration in die israelische Lebenswelt bei gleichzeitiger Erinnerung an ihre vorangegangenen Lebens- und Exilstationen. Die Vergegenwärtigung der Shoah, als "ständige Situation" und als "Zeitenwende", bildet hierbei die Grundintention ihres Schreibens und Arbeitens. Erst spät, nach der Ankunft in Israel, begann sie Hebräisch zu lernen. 1939, als sie sich zur Flucht nach England entschloss, war es ihr noch nicht in den Sinn gekommen, in das damalige Palästina zu emigrieren.

"Wie Sie sehen, habe ich den Holocaust nicht am eigenen Leibe erfahren, er ist aber als ständige Situation nie mehr aus dem Bewußtsein geschwunden, als Zeitenwende, die die Welt irreversibel veränderte, nicht nur die jüdische. Sie machte die unausdenkbare Möglichkeit im Zentrum des Bewußtseins zur Realität, die seitdem wiederholbar ist, schwellenlos. Die nackten farblosen judäischen Berge Jerusalems ergriffen mich beim ersten spontanen Besuch. Almen, Linden, Wälder und Lämmerwölkchen waren nicht mehr meine gewesen, nach so vielem Weggehen. Hier hatte ich das Recht des Zu-Hause-Seins, - for better or worse, wenn auch unter schweren Einbußen. Ich spreche recht gut Hebräisch. Aber man vergißt nichts, nichts. Man ist alles Gewesene; die Verschmelzung aller Abläufe in Gleichzeitigkeit, ein neues chemisches Element. [...] Die Welten, die uns formten und die wir erlebten, sind verschwunden, ihre Völker, Menschen, Länder sind kaum noch Geschichte für die Spätergeborenen, unsere Kämpfe und Tode, selbst unsere Antennen schon unbekannt, aber wir sehen noch ungefähr so aus wie früher und leben in der völlig veränderten Welt und Zeit, anscheinend angepaßt, aber anders lebendig, aus verborgenen geologischen Schichten." (Jokl, Brief an Arnim Borski, 1991, 43)

Obwohl sich Jokl die hebräische Sprache erst in fortgeschrittenem Alter erarbeitet hat, lässt sich der Einfluss des Hebräischen in ihren deutsch verfassten Texten nachweisen. Jokls Schreiben ist von der Essenz und der Assoziationsvielfalt des einzelnen Wortes, wie es für die hebräische Sprache charakteristisch ist, geprägt. Sowohl die Texte des Prosabandes "Essenzen" (1993) als auch die autobiographischen Skizzen des Bandes "Die Reise nach London" (1999) sind prägnante, auf das Wesentliche reduzierte Erzähltexte. Gute Sprache entsteht nach Jokls Auffassung aus der Brechung von Sprachen, an den Grenz- und Mischzonen der Sprachen. Die Texte handeln an den "Brennpunkten" im Leben der Autorin. Persönliches Erleben - fokussiert in Begegnungen und Erinnerungen - und Zeitgeschichte fließen ineinander. Miniaturenhafte Wirklichkeitsausschnitte weiten sich zu Chiffren deutsch-jüdischer Existenz im 20. Jahrhundert.

S. 12/14 vorherige Seite - nächste Seite

  

IMPRESSUM | 2002 © UNIVERSITÄT SALZBURG