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KAPITEL

1. Problemaufriss
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2. Das Verhältnis der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zum Exil
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3. Literaturgeschichten und Zeitschriften über das Exil
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4. Exilerfahrung und Poetologie
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5. Anhang
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Primus-Heinz Kucher:
Exil und literaturgeschichtliche Reflexion: Überlegungen zu einem (un)auffälligen Missverhältnis


Beleuchtet man das Selbstverständnis des Faches von seinen repräsentativen Unternehmungen wie z. B. Literaturgeschichten oder Zeitschriften her, sieht es für das Exil nach wie vor nicht gut aus. Für die Wiedergewinnung einer kulturell-intellektuellen Öffentlichkeit nach 1945 fallen die Leistungen des Exils und dessen Verschränkung mit der Gegenwartsliteratur kaum ins Gewicht - sieht man von einigen rhetorischen Bekenntnissen ab. Es scheint, als hätte es den PEN-Kongress 1980 zum Thema "Literatur des Exils" nie gegeben, auf dem Peter Härtling und Willy Brandt die Exilkultur als die nötige "andere" nationale Tradition und Identität definiert hatten; es scheint, als hätten die Exil-Arbeitsstellen keine Symposien abgehalten und keine Publikationen vorgelegt.

Merkwürdig ist daher auch die Blickwinkel der Exilerfahrung gegenüber. Während Lutz Winckler "Mythen der Exilforschung" nachspürt (Lutz Winkler, 1995, 68?81), die im Zuge der Positionsdebatten der 70er Jahre in der BRD immerhin einen gewissen Stellenwert hatten, bedauert der Nachkriegsband von Hansers "Sozialgeschichte der deutschen Literatur (1945-67)" nach gut 200 Seiten über die Wiederaufbau-Ära zwar die "Abwehr der Leistungen von Exilautoren", konzediert ihnen aber keinen eigenen Raum und schreibt somit (unbeabsichtigt?) an der Abwehr fort. Auch der von Horst Albert Glaser koordinierte neu aufgelegte Band "Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995" (UTB 1997) kennt im Gegensatz zu seinem bei Rowohlt 1983 erschienenen Vorläufer (Deutsche Literatur. Bd. 9) die Exilliteratur nicht mehr als Referenz für die Literatur nach 1945. Weitere Defizite hat Eberhard Bahr (1993) angesprochen, die nun zum Teil durch das "Metzler Lexikon der Deutsch-Jüdischen Literatur" (2000) aufgearbeitet wurden.

Auch die Lektüre der imposanten "Literaturgeschichte Österreichs 1945-1998" von Klaus Zeyringer geht am vielschichtigen Komplex Exil vorbei bzw. behandelt ihn nur in Nebensätzen. Nur an Heimito von Doderers "Merowinger" wird auf den "intertextuellen Roman-Boden" hingewiesen, d. h. auf den Exilautor Hans Flesch-Brunningen. Dabei lädt der Abschnitt "Defizitgeschichten" geradezu ein nachzufragen, worin diese bestanden haben. Doch weder Jean Améry, noch Berthold Viertel, weder Jakov Lind, Fred Wander noch Hermynia Zur Mühlen, um nur einige Namen zu nennen, sind einige Zeilen gewidmet. Diese Absenz schmerzt, weil mit ihr beachtliche Exilleistungen fehlen, z. B. jene der Verschränkung von Essay und Erzählung, eine unterschätzte Signatur (H. G. Adler), jene der ideologiekritischen Reflexion, wie sie Berthold Viertels "Austria Rediviva" (1945) vorführt, oder jene der bewusst fragilen Synthesen, auch in der Form, wie z. B. Jean Amérys "Unmeisterliche Wanderjahre".

Adler, H.G. zeigen
Adler, H.G. zeigen
Viertel, Berthold zeigen
Viertel, Berthold zeigen

Niemand will den Schlüsseltexten der 60er Jahre (Thomas Bernhards "Frost", Heinrich Bölls "Billard um halb zehn" oder Günter Grass' "Blechtrommel" ihr Gewicht absprechen, schon gar nicht hinsichtlich ihrer Auseinandersetzung mit verdrängten kollektiven Dispositionen. Dennoch ist einzuwenden, dass Texte wie Hilde Spiels "Lisas Zimmer" (1961/65), Albert Drachs "Unsentimentale Reise" (1966) oder Fred Wanders "Der siebente Brunnen" (1972) neben den genannten literarischen Monumenten bestehen können, ja sie geradezu kontrastiv kommentieren.

Wander, Fred zeigen
Wander, Fred: Der siebente Brunnen zeigen
Wander, Fred zeigen
Drach, Albert zeigen

An Jakov Lind und Fred Wander tritt nämlich eine spezifische Literarizität von Exilerfahrungen in den Blickpunkt, die deutlich von den heroisch-historischen Exilautobiographien der älteren Generation abrückt. Ihre Verlusterfahrungen fügen sich nicht mehr in einen teleologischen Welt- und Lebensentwurf, ihre Autonomie und Ästhetik zielt eher auf Modulationen des Vertriebenen- und Existenzstatus (Stichwörter: ahasverische bzw. anarchische Vagabondage, zerfranste Text-Körper). Auch die Zuwendung zu verschütteten erzählerischen Traditionen einer ostjüdischen Oralität in den Texten Fred Wanders verdiente umfassende Würdigung.

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