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KAPITEL

1. Die literarische Bedeutung Berthold Viertels
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2. Jüdische Herkunft
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3. Jugendlicher Ausbruchsversuch und Rückkehr
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4. Berthold Viertel und Karl Kraus
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5. Republikanismus, Weimarer Republik
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6. Theaterkonzeption, Kultur und Zivilisation, Rotes Wien
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7. Berthold Viertel und der Sozialismus
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8. Die Stellung zur Österreich-Frage
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9. Literarische Strategien
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10. Das Verhältnis zum Exil
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11. Die Stellung innerhalb des deutschsprachigen Exils in den USA
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12. Die Nachkriegssituation
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13. Der "Reichskanzleistil"
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14. Die spätere Theaterauffassung
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15. Zur Rezeption des literarischen Werks
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16. Anhang
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Konstantin Kaiser:
Berthold Viertel (1885-1953)


Die literarischen Gattungen, die Viertel wirklich pflegte, waren Lyrik, Essay und erzählerische Prosa (autobiographische Fragmente, short stories, Romanentwürfe). Die Gewichtung zwischen ihnen verschob sich mit den verschiedenen Lebensphasen. Hatte bis 1913 die Lyrik, als das dem subjektiven Überschießen des bestehenden, stagnierenden Zustandes Adäquate, dominiert, übernahm die Essayistik in der Folge, als die subjektiven Ansprüche nicht nur in der "Scheinwelt" des Theaters einlösbar schienen, die führende Rolle. "Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit" (entstanden 1916/17) wurde zum Hauptwerk dieser Periode. Die Essayistik folgte einem rhetorischen Duktus (der sie über die Unebenheiten des Faktischen zum gedanklichen Entwurf trug), war auf Überzeugung und Überzeugen abgestellt. Die widersprüchliche Stabilisierung ab etwa 1924 brachte nicht nur eine verstärkte Hinwendung zum seiner Natur nach epischeren Film, sondern auch zur erzählerischen Prosa. (1927 erschien der kleine Roman "Das Gnadenbrot"; 1926/27 entstanden in Düsseldorf das "Ariadne"-Romanfragment und erste autobiographische Skizzen). Als das künstlerische Scheitern in Hollywood - das sich gerade in den 'Erfolgen' zeigte - und der gleichzeitige Vormarsch des Faschismus in Europa - der die Perspektive der Rückkehr zu kontinuierlicher, aufbauender Arbeit zerstörte - Viertel in eine tiefe menschliche Krise trieben, in der er bei Strafe des intellektuellen Untergangs um eine Neuorientierung und Selbstbesinnung zu ringen hatte, musste er das Schreiben von Gedichten erst wieder mühsam erlernen.

In der Situation des Exils veränderte sich das Verhältnis der drei Gattungen zueinander neuerlich. Publizistisch - in dem, was von Viertel in Exilzeitschriften und Exilverlagen gedruckt wurde - herrschten Lyrik und Essayistik vor. Doch entstanden gleichzeitig die - zum Teil in englischer Sprache geschriebenen - short stories, manchmal als kleine Parabeln angelegt, öfter jedoch der Beobachtung einer alltäglichen Szene und der Vermutung, was für eine Geschichte ihr zugrunde liege, entspringend. In ihrer Tendenz, hinter der fertigen Oberfläche, der Banalität eines Vorgangs ein Werdendes, eine menschliche Handlung zu entdecken, wurden die short stories weitergeführt in den autobiographischen Fragmenten, die das Resultat, das zur Gewohnheit gewordene eigene Ich, in Frage stellten, den Prozess seiner Entwicklung selbstkritisch rekonstruierten. Das autobiographische Schreiben beschäftigte Viertel bis zu seinem Tod, drängte in immer neuen Anläufen und Entwürfen ab 1948 sogar die Lyrik an den Rand - was auch rein zeitökonomisch zu verstehen ist, da Viertel in den letzten fünf Jahren seines Lebens, durch Krankheit und widrige Umstände behindert, mit Inszenierungen in Zürich, Berlin, Salzburg und Wien über die Grenzen seiner Belastbarkeit beansprucht war.

Insgesamt jedoch zeichnete sich die eigentliche Exilsituation durch eine höhere Gleichzeitigkeit des lyrischen, essayistischen und epischen Schreibens aus. Die Gattungen näherten sich einander an: In der Essayistik blieb der rhetorische Schwung zwar erhalten, aber er ließ den - vordem seltenen - erzählenden und berichtenden Passagen mehr Raum; die erzählerische Prosa enthob sich dem Novellistischen, dem Zwang, eine in sich geschlossene Geschichte zu bieten, durchsetzte sich mit Gedankensplittern und Reflexionen; die Lyrik nahm Protokollartiges in sich auf und öffnete sich dem politischen Geschehen der Zeit. Natürlich war dieses prekäre literarische Glück der Vereinigung des Disparaten, diese späte Erfahrung einer produktiven Universalität vom erzwungenen Verzicht auf eine kontinuierliche Theater- und Filmarbeit und vom Bewusstsein eines größeren Unglücks begleitet:

"Der hier spricht, wurde von den Nationalsozialisten erst in der Erziehungsanstalt eines Konzentrationslagers pädagogisch behandelt, dann nach Polen abgeschoben, schließlich - ein stammelndes Gespenst - vergast. - Daß es nicht tatsächlich geschah, ist einzig und allein die Folge einer rechtzeitigen Ortsveränderung. Eine solche historische Erledigung ist - auch wenn das Individuum verschont blieb - weder etwas Unwirkliches, noch etwas Zufälliges. Sie trifft und betrifft den Typus ..." (Notiz, New York 1944)

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