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KAPITEL

1. Die literarische Bedeutung Berthold Viertels
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2. Jüdische Herkunft
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3. Jugendlicher Ausbruchsversuch und Rückkehr
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4. Berthold Viertel und Karl Kraus
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5. Republikanismus, Weimarer Republik
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6. Theaterkonzeption, Kultur und Zivilisation, Rotes Wien
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7. Berthold Viertel und der Sozialismus
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8. Die Stellung zur Österreich-Frage
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9. Literarische Strategien
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10. Das Verhältnis zum Exil
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11. Die Stellung innerhalb des deutschsprachigen Exils in den USA
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12. Die Nachkriegssituation
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13. Der "Reichskanzleistil"
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14. Die spätere Theaterauffassung
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15. Zur Rezeption des literarischen Werks
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16. Anhang
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Konstantin Kaiser:
Berthold Viertel (1885-1953)


Anders als Kraus begrüßte Viertel die revolutionären Erhebungen der Jahre 1918/19. Er erlebte Thomas Masaryks Einzug in Prag, die Gründung des tschechoslowakischen Staates; er war Zeuge der Ausrufung der Republik in München durch Kurt Eisner; Gustav Landauer, Ernst Toller, Rainer Maria Rilke, Alfred Wolfenstein - sie alle tragisch in den Untergang der bayerischen Räterepublik verwickelt - zählten zu seinen persönlichen Bekannten und Freunden. Als Dramaturg und Regisseur 1918 ans "Königliche Schauspielhaus" in Dresden berufen, trug er dessen Umgestaltung in ein "Staatstheater" mit, gehörte dem nach dem Rätemodell gebildeten kollektiven Leitungsgremium (das aus Vertretern des künstlerischen Personals und der Bühnenarbeiter zusammengesetzt war) an, bis dieses, im Zuge der 'Normalisierung', wieder durch einen allein verantwortlichen Intendanten verdrängt wurde. Er verteidigte die neuen gewerkschaftlichen Rechte der Schauspieler gegen die autoritativen Einwände Max Reinhardts und Siegfried Jacobsohns (des Herausgebers der "Weltbühne") in der Hoffnung, das "rein Gewerkschaftliche der bisherigen Schauspielerbewegung" werde in "ein revolutionäres Aufleben des Gemeinschaftsgeistes" übergehen.

Die republikanische 'tabula rasa', die Beseitigung überkommener Privilegien und bürokratisch-feudaler Ordnungen, die den Einzelnen in ein System von Abhängigkeiten verwickelt hatten, ihm in seiner Lebensführung Rücksichten aufzwangen, deren Zusammenhang mit menschlicher Leidenschaft nur in der Intrige aufblitzen konnte, verhieß Viertel eine Erneuerung des Theaters vom Drama her. Das "Zusammentreffen der beiden Motive, des Sozialen und des Künstlerischen", das ihn schon 1912 zur Wiener Freien Volksbühne (wo er zuerst als Dramaturg tätig war) gezogen hatte, schien nun auf erweiterter Skala Gültigkeit zu gewinnen. Die Menschen standen sich gleichsam nackt gegenüber, hatten ihre Ansprüche und Haltungen aus sich selbst, ohne Berufung auf äußere Instanzen, zu rechtfertigen. Das expressionistische Drama der Carl Sternheim, Friedrich Wolf, Walter Hasenclever, Georg Kaiser, August Stramm und Arnolt Bronnen, denen der Regisseur Viertel in seiner Dresdener und Berliner Zeit mit zum Durchbruch verhalf, stellte sich als der adäquate Ausdruck der geänderten sozialen und politischen Lage dar. Die Weimarer Republik übte in den 1920er Jahren schon aus Gründen des beruflichen Fortkommens eine große Anziehung auf eine Vielzahl österreichischer Intellektueller aus.

An den Theatern, im publizistischen Bereich und in der Lehrtätigkeit an den Kunstschulen und Akademien boten sich für österreichische Intellektuelle ganz andere Möglichkeiten als in ihrer alten Heimat: Schönberg lehrte an der Akademie der Künste in Berlin, Oskar Kokoschka in Dresden; Friedl Dicker und Franz Singer waren am Bauhaus in Weimar; Alfred Polgar lebte als Mitarbeiter der "Weltbühne" in Berlin; Fritz Kortner, Elisabeth Neumann, Elisabeth Bergner spielten bis 1933 fast ausschließlich in Deutschland - um nur einige Beispiele aus dem näheren Bekanntenkreis Viertels zu nennen. Doch das Berufliche war nicht allein ausschlaggebend: Was in Deutschland und vor allem in Berlin geschah, Neues, Modernes aber auch Problematisches, schien gültig für die neue Epoche.

"Ich gehe gern auf politische Versammlungen", schrieb Viertel am 1.1. 1919 aus Dresden an seine Frau Salka in München, "das deutsche Volk ist so neu und interessant für mich ..."

Dass die Helden der expressionistischen Dramatik gerade durch ihre Abstraktheit, durch die Abschälung des sozialen Bezugs von der Individualität, die ihnen gegenübergestellte Welt wieder zum Milieu werden ließen und damit eine ungewollte Wiederauferstehung des Naturalismus herbeiführten, ist ein Gedanke, der erst gedacht werden konnte, als die expressionistische Bewegung zum Stillstand gekommen war, als das Pathos des immer neu angesetzten Durchstoßens zum ,wahren Menschen' erschöpft war. Viertel selbst hat später die Kultur der Weimarer Republik mit einer "Kruste" verglichen, unter der sich jene Mächte, die schon den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bewirkt hatten, zur Vorbereitung eines weiteren Weltkriegs sammelten. Vielleicht hielt Viertel darum Distanz zu den frühen Versuchen Brechts, weil in ihnen der vom Expressionismus erhobene Subjektivitätsanspruch allzu schnell preisgegeben schien - der spätere Viertel jedenfalls schätzte die Dramatik Brechts ab Ende der 1920er Jahre um so höher, als in ihr die vom Expressionismus gegebenen Impulse aufgenommen, kritisch umgearbeitet und realistisch verwandelt waren.

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