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KAPITEL

1. Verfolgung, Vertreibung und die Germanistik
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2. 'Anschluss' in Wien, Emigrationsbedingungen
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3. Flüchtlingsland USA
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4. Literatur als Erinnerung und Heimat
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5. Literaturwissenschaft als Mahnung und Bewahrung
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6. Anhang
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Beatrix Müller-Kampel:
Germanistik als Erinnerung, Mahnung und Heimat. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada


Begehrtestes Ziel der jüdischen Flüchtlinge waren die USA. (vgl. bes. Whiteman 1993, 73 [dt.: 1995, 29]) Dies galt bereits für die Jahrzehnte vor 1933, war doch zwischen 1880 und 1925 die jüdische Bevölkerung in den USA bei einer Gesamtpopulation von 50 bzw. 115 Millionen von rund 280.000 auf viereinhalb Millionen gestiegen - vor allem durch Zuwanderung aus Osteuropa. (vgl. Karp 1989, 139) Restriktionen prägten seit 1920 auch hier die Einwanderungspolitik der Regierung. (Zu den verabschiedeten einschlägigen Gesetzen vgl. Karp 1989, 141) Sie entsprachen durchaus der Stimmung in der Bevölkerung, wie man 1939 in einer von der amerikanischen Monatszeitschrift »Fortune« veranstalteten Meinungsumfrage nachlesen konnte: Dort hatten 83% auf die Frage "Wenn Sie Mitglied des Kongresses wären, würden Sie zu einem Gesetz, das die Tore der Vereinigten Staaten für eine größere Anzahl europäischer Flüchtlinge über die gesetzliche Quote hinaus öffnet, Ja oder Nein sagen?" mit "Nein" geantwortet. (vgl. Durzak 1973, 145) Den jüdischen Gemeinden in den USA wie den Vertriebenen schlugen vielfach Nationalismus, Antisemitismus und eine generelle Xenophobie entgegen (vgl. bes. Wyman 1984; Szajkowski 1971, 101-143; Strauss 1971, 64-66) - aber auch eine Welle von Hilfsbereitschaft seitens privater (religiöser) Hilfsorganisationen. (vgl. Nichols 1988, 86-111) Mitverursacht waren Flüchtlingsfeindlichkeit und Restriktionspolitik freilich auch durch die wirtschaftliche Depression: Bei einer geschätzten Arbeitslosenzahl von 15 Millionen hätte, so argumentierte die "New York Times" 1932, eine Genehmigung von 500.000 gerade abgewiesenen Visa-Anträgen die Situation auf dem Arbeitsmarkt nur weiter verschärft.

Vorherrschend war in den USA die Form der Quotenpolitik - 1939 betrug die Quote für das ganze Land 2.600 Familien. (vgl. Szajkowski 1971, 132) Die USA unterschieden zwischen vier Visakategorien: non-immigrant visas für Touristen und Transitreisende, non-quota immigrant visas für Geistliche, Universitätslehrer, Studenten, ehemalige Staatsbürger und Verwandte von qualifying individuals, quota-immigrant visas sowie gewöhnliche immigration visas. ( vgl. Strauss 1982, 59) Erfordernis für die Zuerkennung eines Quoten-Visums war der Nachweis, dass der Einwanderer der Öffentlichkeit nicht zur Last fallen werde (was für den Flüchtling bedeutete, dass ein Verwandter bzw. ein amerikanischer Staatsbürger für sein Auskommen bürgen musste). Auf Anordnung von Bockenridge Long, einem einflussreichen Antisemiten im State Department, wurden jedoch nicht einmal die legalen Quoten für Juden erfüllt. Erst als ein New Yorker Rabbiner Roosevelt darauf aufmerksam machen konnte, änderte sich dies - für viele schon zu spät. Trotz Depression, Quotenpolitik und Affidavit-System, (vgl. Szajkowski 1971, 113) fanden zwischen Jänner 1933 und November 1943 rund 580.000 jüdische Emigranten in den USA eine neue Heimat (vgl. Szajkowski 1971, 113), darunter zwischen 250.000 und 300.000 NS-Flüchtlinge. (vgl. Breitman, Kraut 1987, 9; Strauss 1971, 64) Gegen heftige, auf antisemitischen Vorurteilen und einwanderungsfeindlicher Ranküne beruhende Widerstände in Kongress und Bevölkerung setzte Präsident Harry S. Truman auch 1948 die »Displaced Persons Bill« durch, welche die Aufnahme von 205.000 europäischen Displaced Persons vorsah. Bis 1952 nahmen die USA rund 337.244 Überlebende von Krieg und Holocaust auf: Sklavenarbeiter, Kriegsgefangene und sonstige europäische Vertriebene sowie 137.450 jüdische Immigranten. (vgl. Dinnerstein 1982, 286 u. 288)

Roosevelt, Franklin D. zeigen

Die jüdischen Flüchtlinge waren in ein Land gekommen, das sich in einer tiefen Wirtschaftskrise befand und sich erst seit 1940 langsam aus der Depression heraus zu arbeiten begann. Vielfach bedeutete dies den Zwang zu untergeordneten Tätigkeiten, beruflich sozusagen wieder bei Null anzufangen. (vgl. Strauss 1971, 79) Die Mühen und existentiellen Sorgen des Neubeginns wurden in den USA sozioökonomisch meist durch Familienunterstützung gemildert (sie galt hier ohnehin als eine erwünschte bzw. erforderte Aufnahmebedingung, vgl. Strauss 1981, 338). Zudem bot ein Netz von jüdischen Hilfs- und Wohlfahrtsorganisationen den Flüchtlingen nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern auch die Möglichkeit einer Integration ohne erzwungene Verleugnung der eigenen Herkunft, einer emotionalen und mentalen Ausbalancierung zwischen dem Eigenen, das hier in den USA als fremd, und dem Fremden, das als das Übliche und Gebotene galt. (vgl. Strauss 1971, 86)

Das amerikanische 'Wirtschaftswunder' zwischen 1940 und 1960 garantierte zumindest Jobs - erste solide Stellungen in Fabriken und Ämtern. Dass jüdischen Flüchtlingen letztlich eine überproportionale Teilhabe an den Früchten dieses Wirtschaftswunders gelang, war auf den Unternehmungsgeist der Vertriebenen zurückzuführen (vgl. Strauss 1971, 80) - und wohl auch auf die durch jahrhundertelange Verfolgung und Ausgrenzung erlernte Fähigkeit, unliebsamen Situationen gewachsen zu sein. Nach überstandenen Qualen und Ängsten und in Erinnerung an die Ermordeten arbeitete man an der Verwirklichung des Traums von Unabhängigkeit und Prosperität. Kulturell reagierte die erste Generation von Flüchtlingen auf die neuen Erfordernisse in Ökonomie, Sprache, Bildungswesen, Kommunikationsverhalten, Freizeitformen, Kleidung und politischer Identitätsbildung, indem sie den ohnehin erwünschten Weg der Amerikanisierung einschlug. (vgl. Strauss 1988, 290)

Angeekelt von der industriellen Menschenvernichtung, den grauenerregenden Kriegsverbrechen und der entfesselten deutschen Herrenmenschen-Ideologie, erwartete die christlich-protestantische Meinungsmehrheit von den jüdischen Hitler-Flüchtlingen, sich dem 'american way of life' anzupassen. (vgl. Strauss 1971, 91) Wie rasch und tiefgreifend die kulturelle Assimilation erfolgte, lässt sich beispielsweise aus der rapide abnehmenden Zahl deutschsprachiger Periodika ablesen: Hatte es in den USA 1930 noch 22 deutschsprachige Zeitungen gegeben, so sank die Zahl bis 1940 auf 13, bis 1950 auf sieben und bis 1960 schließlich auf vier. (vgl. Fishman, Nahirny, Hofman, u. a. 1966, 52)

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