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KAPITEL

1. Behütete Kindheit und Jugend in der Bukowina
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2. Auswanderung nach Amerika
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3. „Der Regenbogen“ erscheint in Czernowitz
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4. Sowjetisierung der Bukowina
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5. Ghetto, Elend, Horror, Todestransporte
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6. Wieder in Amerika
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7. Im Nelly-Sachs-Haus
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8. Poetologische Grundsätze
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9. Das letzte Jahrzehnt
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10. Anhang
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Peter Rychlo:
Rose Ausländers Leben und Dichtung. „Ein denkendes Herz, das singt“


Komm, laß uns lautlos in den Abend gehn / und immer tiefer in den Wald der Nacht, / wo Sterne hoch und weiß wie Lilien stehn / und noch ein Märchenmund im Monde wacht. // Hier sind wir nicht daheim. Es ist kein Raum / so groß, daß unsre Sehnsucht ihn erfüllt. / Wir steigen tausend Treppen in den Traum, / wo Gott das Licht in tausend Farben hüllt.

(Ausländer, Rose: Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte 1927-1947. Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 53)

Man sieht, dass dieses Gedicht Rose Ausländers noch in den „Schnürleib der Tradition“ (Walter Hinck) eingezwängt ist. Abend und Nacht, Wald, Sterne und Mond, Sehnsucht und Traum bildeten schon immer eine beliebte Kulisse der romantischen Dichtung, aber auch die allgemeine Stimmung dieser Verse, ihre schimmernde märchenhafte Melancholie, der Versuch, aus dem Irdischen in die Sphäre des Transzendenten zu fliehen, machen dieses frühe Gedicht der jungen Dichterin mit dem romantischen Weltbild verwandt. Auch Rainer Maria Rilkes Töne erkennt man hier unschwer in der Art der Metaphorisierung, wenn man z. B. an seine Zeilen denkt: „Traumselige Vigilie! / Jetzt wallt die Nacht durchs Land; / der Mond, die weiße Lilie, / blüht auf in ihrer Hand“. So wächst diese Lyrik aus traditionellen Vorstellungen von Dichtung auf, die als eine „himmliche Gnade“ verstanden wird, als eine Substanz, deren Entstehung dem höheren Willen verpflichtet ist. „Lied und Gedicht müssen Flügel sein, Vögel einer Sternensphäre“, schrieb Rose Ausländer in einem Brief an ihren Czernowitzer Förderer Alfred Margul-Sperber am 16. März 1935. „Der Typus des ‚modernen‘ Dichters ist kein Lyriker, sondern so etwas wie ein sprachlicher Ingenieur, ein Maschinenmensch, dessen Worte Hammerschläge statt gelöster Klänge sind. Der wahre Lyriker muß heute ‚altmodisch‘ erscheinen“ (Neue Literatur, Bukarest, 1988, Heft 9, S. 53). In einem anderen frühen Versuch mit dem Titel „Das vollendete Gedicht“, der sich in ihrem Nachlass aufbewahrt hat, entwickelt sie ihre Poetologie in völliger Übereinstimmung mit diesem ästhetischen Konzept:

Wir brauchen das vollendete Gedicht, / den keuschen Klang, das klare, reine Licht, / um wieder Kind zu sein und still zu beten.

(Ausländer, Rose: Denn wo ist Heimat: Gedichte 1927-1947. Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 38)

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