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KAPITEL

1. Behütete Kindheit und Jugend in der Bukowina
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2. Auswanderung nach Amerika
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3. „Der Regenbogen“ erscheint in Czernowitz
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4. Sowjetisierung der Bukowina
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5. Ghetto, Elend, Horror, Todestransporte
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6. Wieder in Amerika
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7. Im Nelly-Sachs-Haus
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8. Poetologische Grundsätze
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9. Das letzte Jahrzehnt
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10. Anhang
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Peter Rychlo:
Rose Ausländers Leben und Dichtung. „Ein denkendes Herz, das singt“


Nach dem „roten Schachspiel“, dem kurzen sowjetischen Besatzungsjahr, in dem viele Czernowitzer Juden als „Bourgeois“ angeprangert und nach Sibirien verschickt worden waren (am 13. Juni 1941, kurz vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, wurden aus Czernowitz ungefähr 4000 Personen deportiert), kamen Anfang Juli 1941 die deutschen SS-Truppen in die Bukowina. Die große Synagoge (Templ) wurde in Brand gesetzt, etwa 300 führende Funktionäre der jüdischen Gemeinde wurden am Ufer des Pruth erschossen. Zum erstenmal in der Geschichte der Stadt entstand in Czernowitz ein jüdisches Ghetto. Die Wohnung in der Dreifaltigkeitsgasse, wo Rose Ausländer, ihre Mutter und Schwiegertochter Bertha mit ihrem kleinen Sohn lebten (Bruder Max wurde von den Sowjets zwangsrekrutiert), gehörte zum Ghettoviertel. Von da an muss R.Ausländer den gelben Davidstern tragen, wird zu schweren Zwangsarbeiten herangezogen und von rumänischen Gendarmen brutal misshandelt. Die Familie lebte von heimlich geschmuggelten Nahrungsmitteln, die sie aus dem Erlös von Schmuck und anderen wertvollen Dingen finanzierte, oder war auf die Hilfe einiger in materieller Hinsicht besser versorgten Freunde angewiesen. Jeder Tag verwandelte sich in einen harten Lebenskampf. Daran erinnert sich die Dichterin in ihrer Skizze „Alles kann Motiv sein“:

Getto, Elend, Horror, Todestransporte. In jenen Jahren trafen wir Freunde uns zuweilen heimlich, oft unter Lebensgefahr, um Gedichte zu lesen. Der unerträglichen Realität gegenüber gab es zwei Verhaltensweisen: entweder man gab sich der Verzweiflung preis, oder man übersiedelte in eine andere Wirklichkeit, die geistige. Wir zum Tode verurteilten Juden waren unsagbar trostbedürftig. Und während wir den Tod erwarteten, wohnten manche von uns in Traumworten – unser traumatisches Heim in der Heimatlosigkeit. Schreiben war Leben. Überleben. (Ausländer, Rose. Die Nacht hat zahllose Augen. Prosa. S. 93)

Auch unter diesen unerträglichen Umständen schrieb Rose Ausländer Gedichte, die sie erst Jahrzehnte später publizieren konnte, wie z. B. die folgenden freirhythmischen Zeilen aus dem Zyklus „Gettomotive“:

Sie kamen mit giftblauem Feuer / versengten unsere Kleider und Haut. // Der Blitz ihres Lachens schlug an unsre Schläfe / unsere Antwort war der Donner Jehovas. // Wir stiegen in den Keller, er roch nach Gruft. / Treue Ratten tanzten mit unseren Nerven. // Sie kamen mit giftblauem Feuer unser Blut zu verbrennen. / Wir waren die Scheiterhaufen unsrer Zeit.

(Ausländer, Rose: Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte 1927-1947. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 143)

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