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KAPITEL

1. Zum Stand der Forschung
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2. Mexiko
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3. Brasilien - Paul Frischauer, Stefan Zweig
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4. Liberaler Humanismus - politische Utopie - blutige Geschichte
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5. Alfredo Bauer
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6. Fritz Kalmar - Heimweh nach Österreich
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7. Trude Krakauer - Niewiederkehr
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8. Österreichische Exilschriftsteller/innen in Lateinamerika
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9. Anhang
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Konstantin Kaiser:
Zwischen Heimweh und neuer Erkenntnis - Österreichische Exilliteratur in Lateinamerika

Liberaler Humanismus - politische Utopie - blutige Geschichte


Der liberale Humanismus, dessen tragische Ohnmacht Stefan Zweig in seinem Erasmus-Roman zur Bedingung humanistischer Haltung macht, weil überall, wo das Wort zur Tat wird, sich die Kette der Taten als mächtiger erweist als die Logik der Worte, hat für den Marxisten Alfredo Bauer seine Grundlage in einer spezifischen Entwicklungsphase der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist dies die Phase in der die Durchsetzung und Verallgemeinerung der Prinzipien bürgerlichen Zusammenlebens als Lösung des sozialen Problems erscheint. Für den liberalen Humanismus besteht das Problem nicht in der Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise selbst, sondern in den noch vorhandenen politischen, ethnischen, kulturellen und sozialen Überresten früherer oder anderer Gesellschaftsformationen. Die immer gerade bevorstehende Vollendung der bürgerlichen Gesellschaft verheißt als eine stets hinausgeschobene Utopie die Überwindung einer Geschichte von Gewalttaten und unerhörten Verbrechen, von gedrücktem Elend und hochfahrendem Reichtum.

Doch in Lateinamerika stößt die aufstrebende bürgerliche Gesellschaft wie nirgendwo sonst auf ihre eigene blutige Vorgeschichte, auf die Zerstörung großer Kulturen in Mexiko und Peru, auf millionenfachen Mord und das Hinsiechen ganzer Völker in den Bergwerken. Darauf ist der 1997 in Quito verstorbene Diego Viga (Paul Engel), der durch den Bürgerkrieg aus Kolumbien vertrieben wurde und zuletzt in Ecuador lebte, in seinen Erzählungen eingegangen. Dass das Dahinsiechen der Indio-Völker auch im 20. Jahrhundert noch lange nicht vorbei war, beschreibt auch der heute als Germanist in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannte Egon Schwarz in seiner Autobiographie "Keine Zeit für Eichendorff. Chronik unfreiwilliger Wanderjahre" (Königstein/Ts. 1979). Schwarz, geboren 1922 in Wien, flüchtete 1939 nach Bolivien, wo er u.a. als Aufseher in den Zinnminen von Potosi Beschäftigung fand und sich, charakteristisch für die Erfahrung Südamerikas, einer Gruppe linker Aktivisten anschloss. Anders aber als Paul Engel und Alfredo Bauer, die in Südamerika blieben und der kommunistischen Partei die Treue hielten, gelangte Schwarz 1953 in die USA und verlagerte sein Engagement auf andere Gebiete. (vgl. Bolbecher, Kaiser 2000, 578 f.)

Mit dem Gold und Silber Lateinamerikas wurden in Europa nicht nur Kriege geführt, sie schufen zugleich die stofflichen Voraussetzungen eines die zunehmende Warenzirkulation unterstützenden Münzwesens. Der europäische Humanismus, so versteht es Alfredo Bauer, gerät in den peripheren Ländern des Kapitalismus in Widerspruch mit seinen eigenen Grundlagen und muss weiterentwickelt, vertieft und radikalisiert werden. Diese Weiterentwicklung fanden Diego Viga und Alfredo Bauer im Marxismus - gewissermaßen ein idioma universal (Weltsprache) des europäischen Geistes. So verstanden es auch Egon Erwin Kisch und Leo Katz in Mexiko, die, freilich einer anderen Generation angehörig, als sozusagen fertige kommunistische Parteigänger ins Exil getrieben wurden.

Den zahlreichen linksgerichteten oder kommunistisch gesinnten Exilautoren Lateinamerikas steht eine schmale Gruppe von katholisch-konservativen Emigranten gegenüber, die namentlich in Brasilien willkommen waren, besonders wenn sie ihr Judentum abgelegt und die Taufe angenommen hatten. (vgl. Hohnschopp u. a. 1994) Dies trifft z. B. auf Otto Karpfen zu, der mit der Taufe den zweiten Namen Maria annahm. Er war Mitarbeiter der in Wien zur Zeit des Ständestaates erschienenen Zeitschrift "Der christliche Ständestaat". Karpfen, der in Brasilien den Namen Carpeaux annahm, wandelte sich von einem Apologeten von Gétulío Vargas in den 1960er Jahren zu einem liberalen Gegner der 1964 errichteten Militärdiktatur. Anders jedoch als Alfredo Bauer und Diego Viga, deren Werk auch der argentinischen oder ecuadorianischen Literatur zugerechnet werden kann, blieb Carpeaux eher ein Mittler zwischen den Kulturen. Für die Brasilianer schrieb er eine große Literaturgeschichte Europas und eine Studie über die deutsche Literatur und blieb innerhalb der brasilianischen Kultur auf die Kultur seiner Herkunft spezialisiert. (vgl. Pfersmann 1988, 1012 - 1016 und Pfersmann 1992, 97-106)


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