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KAPITEL

1. Verfolgung, Vertreibung und die Germanistik
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2. 'Anschluss' in Wien, Emigrationsbedingungen
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3. Flüchtlingsland USA
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4. Literatur als Erinnerung und Heimat
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5. Literaturwissenschaft als Mahnung und Bewahrung
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6. Anhang
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Beatrix Müller-Kampel:
Germanistik als Erinnerung, Mahnung und Heimat. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada

Verfolgung, Vertreibung und die Germanistik


"Zum literarischen Exil": Unverzichtbar: Walter 1984, 1978; Spalek, Strelka 1976, 1989.

Über das Elend und Entsetzen des Einzelnen, die Demütigungen und Träume eines jüdischen Mädchens, das wegen ihres 'arischen' Äußeren um Butter geschickt wird; (vgl. Torton-Beck 2000, 308) eines Gymnasiasten, dem von einem Mitschüler "Du Saujud" ins Gesicht gespieen wird; (vgl. Heller 2000, 85) eines träumerischen Studenten, der sich beim Grenzübertritt eine neue Biographie zurechtlegen muss, denn es geht um das Leben (vgl. Sokel 2000, 44 f.) - darüber geben Statistiken, Lexika und Studien indessen nur dürftige Auskunft. "Da liegt das Dilemma", betont Ruth Klüger in ihrer Autobiographie: "Für uns Heutige ist die Statistik das, was die Notwendigkeit im Trauerspiel für die Schicksalsgläubigen einer anderen Zeit war; aber anders als das Trauerspiel ist die Statistik halt sehr unergiebig in den Einzelheiten. Wo wir uns fürchten und freuen, spricht sie nicht mit." (Klüger 1992, 106) Und was jene bewegte, die den ideellen Bodensatz der Täterkulturen Deutschland und Österreich in der fremden Heimat neu bestellten und dergestalt zu Mittlern wurden (und sich auch als solche begreifen), lässt ein bloß historiographischer Blick allenfalls erahnen.

Klüger, Ruth zeigen

Klüger, Ruth zeigen

Insbesondere gilt dies für jüdische Vertriebene, die sich im Aufnahmeland der Germanistik zuwandten - jener Disziplin, die schon während der 1920er Jahre an den Universitäten Deutschlands und Österreichs tatkräftig an der ideellen Nährung deutschnationaler und nationalsozialistischer Kulturideologie mitgewirkt hatte. Die germanistische 'Kunde des Deutschtums', eine akademisch reichlich dubiose Disziplin (vgl. Heller 1976, 93), die nach 1933 von einem "schrille[n] Chor" von "völkischen oder opportunistischen Chauvinisten", (Schwarz 1995, 161) bestimmt wurde, entsprach dem Selbstverständnis Deutschlands als Weltmacht (Schwarz 1974, 47) und zählte zum Grundbestand nationalistischer Ideologie. (vgl. Sokel 1974, 63) Ein nicht unbedeutender Teil der literaturwissenschaftlichen Germanistik der 1920er Jahre hatte sich als Künder kultureller und politischer Werte verstanden - und zudem noch in einem Gegenstand, welcher sich problemlos national(istisch) und rassi(sti)sch definieren ließ. Auf diese Weise wurde die Disziplin auch empfänglich für nationalsozialistische Ideologeme. Das spätestens seit der Jahrhundertwende entwickelte ideelle Profil schlug sich auch in der personellen Rekrutierung der Universitäten nieder - mit der Folge, dass es innerhalb der Germanistik nach 1933 bzw. 1938 kaum zu Emigrationsbewegungen kam - weder in Deutschland noch in Österreich. (vgl. Sturm 1995; Lerchenmüller, Simon [u. a.] 1997; Für Österreich: Holzner 1985; Strutz 1985; Meissl 1985, 1981 und 1989; für Deutschland: Ferber 1956; Schmitz 1994, VII, IX)

Dennoch ist in den Exilländern auch innerhalb der Germanistik ein bis heute nachwirkender "überwältigende[r] [...] Wissensschub" durch Emigranten aus Deutschland und Österreich zu verzeichnen (Schmitz 1994, XVI) - freilich durch Emigranten der zweiten Generation, also jene, die als Kinder oder Jugendliche vertrieben wurden und sich erst in den Zielländern der Germanistik widmeten. An prominenter Stelle standen und stehen hier - nach dem Ableben des renommierten Kafka-Forschers Heinz Politzer (Wien 1910-Berkeley, Calif 1978) - die aus Wien gebürtigen und nunmehr in den USA und Kanada tätigen Germanist/inn/en und Komparatist/inn/en: Walter Herbert Sokel (geb. Wien 1917), Peter Heller (Wien 1920 - Williamsville, N. Y. 1998), Herbert Lederer (geb. Wien 1921), Hans Eichner (geb. Wien 1921), Egon Schwarz (geb. Wien 1922), Harry Zohn (geb. Wien 1923), Dorrit Claire Cohn (geb. Wien 1924), Ruth Klüger (geb. Wien 1931) und Evelyn Torton Beck (geb. Wien 1933).

Kafka, Franz zeigen

Schwarz, Egon zeigen

Klüger, Ruth zeigen

Sokel, Walter Herbert zeigen

Lederer, Herbert zeigen

Cohn, Dorrit Claire zeigen

Zohn, Harry : Biobibliographie zeigen

Eichner, Hans zeigen

Schwarz, Egon zeigen

Torton Beck, Evelyn zeigen

Heller, Peter zeigen

Infolge der kultur-, mentalitäts- und politikgeschichtlichen Unterschiede zwischen den beiden Herkunftsländern der Emigranten, der Weimarer Republik einerseits, der Ersten Republik Österreichs andererseits, kam es in den Aufnahmeländern zu unterschiedlichen Formen der fachlichen Selbstidentifikation, Selbstrepräsentation und Wirkung - zumal im Bereich der deutschen Literaturwissenschaft mit ihren regional heterogenen literargeschichtlichen Traditionen und Konzepten (deutschsprachige Literaturgeschichte als übergreifendes Modell versus Literaturgeschichte Deutschlands, der deutschsprachigen Schweiz und Österreichs). Und in der Tat durchdringen die lebensgeschichtlichen Erzählungen wie auch die Schriften von Evelyn Torton Beck, Dorrit Cohn, Hans Eichner, Peter Heller, Ruth Klüger, Herbert Lederer, Egon Schwarz, Walter H. Sokel und Harry Zohn Erinnerungen an die österreichische Heimat, die sie verscheucht hatte wie Ungeziefer, an die antisemitische Rage der grölenden Rotten, aber auch an die früh vertrauten Worte und Geschöpfe von Dichtern wie Kafka, Schnitzler, Hofmannsthal, Werfel oder Stefan Zweig. "Wien", versichert Ruth Klüger, "ist die Stadt, aus der mir die Flucht nicht gelang." (Klüger 1992, 17)


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