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KAPITEL

1. Einleitung
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2. Zur Vorgeschichte
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3. "Anschluss" - literarische Pogromstimmung
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4. Verlauf und Richtung der Exilbewegung
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5. Zeitschriften des Exils
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6. Anhang
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Konstantin Kaiser:
Österreichische Exilliteratur im Überblick


Die politischen Gegner des Nationalsozialismus und die rassistisch Verfolgten "gingen ins Exil" - die Formulierung unterstellt, das "Exil" sei als bezugsfertiges Gehäuse irgendwo auf der Welt bereitgestanden, und unterschlägt, dass "Exil" von den Vertriebenen erst erkämpft und erschlichen, erkauft und erbettelt werden musste. Bekanntlich führte das Scheitern der internationalen Konferenz von Evian im Juli 1938, die eine Lösung für die Frage der Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland bringen sollte, zu einer Verschärfung der Asylpolitik der wichtigsten Aufnahmeländer. Wenn ein Land überhaupt politische Flüchtlinge aufnahm, wurden rassistisch Verfolgte nicht als solche anerkannt. Allgemein wurde die Visumspflicht eingeführt; Beschränkungen der Freizügigkeit und Arbeitsverbote für die bereits aufgenommenen Flüchtlinge wurden erlassen. Glich die Bemühung, bei den ausländischen Konsulaten in Wien ein Visum zu ergattern, bereits einem Spießrutenlauf, so war die Erlangung der verschiedenen Bescheinigungen (u. a. der "steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung"), die von deutscher Seite für eine Ausreise aus dem Reichsgebiet gefordert wurden, stets mit Demütigungen, Insultationen und anderen Übergriffen gegen die Bittsteller verbunden. So kamen nicht wenige auf den Gedanken, sich selbst aus der Welt zu schaffen (z. B. Egon Friedell), oder passiv den Schrecken über sich ergehen zu lassen. Insgesamt sind etwa 135.000 Menschen (Mindestschätzung) aus Österreich ins Exil gegangen; etwa 65.000 österreichische Jüdinnen und Juden wurden in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern ermordet.

Ausreisewillige 1938 zeigen

Das Exil beginnt - genauer gesehen - nicht erst 1938; es beginnt mit dem Februar 1934 und der Flucht von sozialdemokratischen und kommunistischen Funktionären und Angehörigen des Republikanischen Schutzbundes, meist zunächst in die Tschechoslowakei. In Brünn entsteht das "Auslandsbüro der österreichischen Sozialisten" mit Otto Bauer an der Spitze und führt die in Österreich verbotene "Arbeiter-Zeitung" als Wochenzeitung weiter. Mitarbeiter sind auch etliche in die CSR geflüchtete sozialdemokratische Schriftsteller: Fritz Brügel, Hugo Sonnenschein, Ernst Fischer, Josef Maria Hofbauer, Schiller Marmorek, Josef Luitpold Stern, Max Winter ... Ein Teil dieser Exilierten geht im Juli 1934 in die Sowjetunion; viele von ihnen finden sich 1937 wieder in den aus Freiwilligen gebildeten "Internationalen Brigaden" der Spanischen Republik; andere werden Opfer der stalinistischen "Säuberung", verschwinden in den Lagern des "Archipel Gulag" oder werden gar - in der Periode deutsch-sowjetischer Zusammenarbeit 1939-41 - an die Gestapo ausgeliefert. Die österreichische Exilgruppe in der Sowjetunion ist über ein riesiges Territorium zerstreut, existiert ohne lebendigen Zusammenhalt und unter äußerst repressiven Bedingungen, in einer Atmosphäre der gegenseitigen Verdächtigungen und Bespitzelungen. Die Bewegungsspielräume sind immer unmittelbar abhängig von der jeweiligen außenpolitischen Orientierung der Sowjetunion. Ein Beispiel: Seit 1938 wird eine österreichische Sendung von Radio Moskau vorbereitet, die erst 1941, als das Intermezzo des Hitler-Stalin-Paktes beendet und der Vormarsch der Wehrmacht vor Moskau zum Stehen gekommen ist, verwirklicht wird. Wenngleich die 1945 aus der Sowjetunion nach Österreich zurückgekommenen kommunistischen Funktionäre in der ersten Nachkriegszeit politisch (und durch Ernst Fischer auch kulturpolitisch) eine bedeutende Rolle spielen, ist das Exil in der Sowjetunion kulturell relativ unfruchtbar geblieben; und bis in die 1960er Jahre hinein hat sich ein Misstrauen zwischen den aus der Sowjetunion und den aus westlichen Ländern nach Österreich zurückgekehrten Exilierten erhalten. (Überhaupt dürfte nur ungefähr jeder zehnte Exilierte nach dem Zweiten Weltkrieg gänzlich oder für einige Jahre nach Österreich zurückgekehrt sein.)

Trotz des Weiterziehens eines Teils der Flüchtlinge in die Sowjetunion blieb die Tschechische Republik (CSR) 1934-37 das wichtigste Exilland. Robert Lucas, Robert Neumann, Hilde Spiel, Berthold Viertel, Stefan Zweig waren zwar nach Großbritannien gegangen, aber die CSR war ein Nachbarland mit einer doch durchlässigen Grenze nach Österreich (und Deutschland): Solange die Erwartung bestand, es werde durch den Widerstand der Arbeiterbewegung in Österreich selbst zu einem Umschwung (ob zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände oder zu einer sozialistischen Republik, war umstritten) kommen, blieb die CSR die "Drehscheibe" der österreichischen und deutschen Emigration, die erstmals mit den bürokratischen und existentiell schwierigen Bedingungen der Organisierung des Exil-Alltags konfrontiert wird, wie die Reportagen von Milena Jesenská (1896, Prag-1944, Ravensbrück) bezeugen. Als sich diese Erwartung nicht erfüllte und die staatliche Fortexistenz der CSR gefährdet erschien, verschob sich der Schwerpunkt des Exils nach Frankreich, das als Nachbarland Hitlerdeutschlands zum Sammelbecken einer Emigration wurde, die im Grunde immer noch eine Überwindung des Nationalsozialismus 'von innen', durch den antifaschistischen Widerstand der Deutschen und Österreicher selbst, erhoffte. Als schließlich Frankreich im Juni 1940 kapitulieren musste, wurde Großbritannien zum wichtigsten Exilland. Die Perspektiven der Exilierten hatten sich in dieser Entwicklung gewandelt: Hatten sie vordem die Niederwerfung des Hitlerregimes durch interne Faktoren (innere Widersprüche des NS-Systems und seiner Wirtschaftspolitik, Opposition des liberalen Bürgertums und der militärischen Kaste, Widerstand der Arbeiter) für möglich gehalten, mussten sie 1939/40 erkennen, dass der Nationalsozialismus hauptsächlich nur mehr durch die alliierte Kriegsführung zu besiegen war. Der innere Widerstand konnte dabei allenfalls eine unterstützende Rolle spielen.

Und noch ein Bruch der historischen Perspektive des Exils ist unbedingt zu erwähnen. Als die Rote Armee 1944 das Konzentrationslager Majdanek bei Lublin erreichte und eine internationale Kommission einen ersten Bericht über die in diesem Lager verübten Verbrechen veröffentlichte, wurde zur Gewissheit, was manche (z. B. die Schweizer Regierung) längst gewusst, viele geahnt und die meisten von sich geschoben, "verdrängt" hatten.

Theodor Kramer

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