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KAPITEL

1. Problemaufriss
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2. Das Verhältnis der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zum Exil
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3. Literaturgeschichten und Zeitschriften über das Exil
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4. Exilerfahrung und Poetologie
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5. Anhang
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Primus-Heinz Kucher:
Exil und literaturgeschichtliche Reflexion: Überlegungen zu einem (un)auffälligen Missverhältnis


"Kennzeichnend für uns ist nicht, daß unser Leben durch ein (unerinnerbares) Intermezzo eine Unterbrechung erfahren hat, sondern daß die Zerfällung unseres Lebens in mehrere Leben endgültig geworden ist; und das heißt, daß das zweite Leben im Winkel vom ersten absteht und das dritte wieder vom zweiten, daß jedesmal eine "Wegbiegung" stattgefunden hat, eine Knickung, die den Rückblick [...] unmöglich macht." (Günther Anders 1962, 67)

Anders, Günther zeigen
Anders, Günther zeigen

Gilt die biographisch-literarische Geographie des Exils mittlerweile als gut vermessen, so zählen Arbeiten, die sich mit der Exilerfahrung im Kontext der ästhetischen Traditionen beschäftigen, noch immer zu den Desiderata der literaturwissenschaftlichen Forschung. Dabei sprechen Passagen wie jene aus Günther Anders "Vitae, nicht vita", Jean Amérys Essays oder Michael Hamburgers Beschreibung des Exils über "ein besonderes Verhältnis zur Sprache" (Michael Hamburger 1978, 481-485) Aspekte des Exils in einer Weise an, die diese Annäherung geradezu herausfordern, ohne bislang in repräsentativen Texten zur Literaturgeschichte Niederschlag gefunden zu haben.

Améry, Jean zeigen
Améry, Jean zeigen
Améry, Jean zeigen

Auf diese bedenkenswert paradoxe Situation hat Klaus Briegleb bereits auf der Tagung der Internationalen Germanisten-Vereinigung (IGV) in Tokyo in seinem Referat 'Die Nicht-Rezeption der deutschen Exil-Literatur nach 1933 in der westdeutschen Gegenwartsliteratur' hingewiesen. Auf ihn und einschlägig Nachfolgendes stützt sich die im Titel formulierte Grundthese des (un)auffälligen Missverhältnisses: Der Exil-Forschungslandschaft mit ihren beeindruckenden Ergebnissen, zuletzt z. B. im "Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945" (Claus-Dieter Krohn u. a. 1998), im "Lexikon der österreichischen Exilliteratur" (Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser 2000), weiters in der von J. M. Spalek betreuten Reihe über das Exil in den USA oder in den Exil-Nummern der Zeitschrift "Zwischenwelt" (vormals "Mit der Ziehharmonika"), steht eine Marginalisierung im Spektrum literaturwissenschaftlicher Debatten, man könnte auch sagen eine Ghettoisierung in Fachorgane und Exil-Gesellschaften, gegenüber.

Zeyringer, Klaus: Österreichische Literatur zeigen
Kilcher, Andreas B. (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur zeigen
Handbuch der deutschsprachigen Emigration zeigen
Lexikon der österreichischen Exilliteratur, hg. von Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser zeigen
Zeitschrift "Mit der Ziehharmonika" zeigen
Zeitschrift: Mit der Ziehharmonika: Frauen im Exil zeigen
Zeitschrift: Mit der Ziehharmonika (1984-1998) zeigen

Exil als literarhistorische und ästhetische Kategorie wird nach wie vor am Rande des literaturwissenschaftlichen Diskurses angesiedelt. Neben "bedeutsamen" Leistungen sei die Exil-Produktion, so ein oft erhobener Einwand, durch eine Tendenz zur "ästhetischen Desintegration" mitgeprägt und seien zu wenig innovative "Ausdrucksformen" festzustellen. (vgl. Wulf Koepke, Michael Winkler: Exilliteratur 1989). Die Folge davon sei, dass es wenig fruchtbare Debatten über Formfragen gäbe und vermeintliche Absagen des Exils an die Moderne, so als wäre das Trauma der Vertreibung, die Reduktion des Menschen auf 'mechanische[n] Halter eines Passes' (Bert Brecht: Flüchtlingsgespräche), das überlebenshungrige Schlüpfen in andere Identitäten oder die Irritation über den "menschlichen Abfall" (Jakov Lind: Selbstporträt) nicht bereits Reflexion eines zum Teil radikal, zum Teil chiffriert anderen Sprechens, eines eigen- und widerständigen Korpus! Als Gegenbeispiel sei auch das Interesse an innovativen poetischen Aspekten im Rahmen der Expressionismus-Debatte genannt, die z. B. in Klaus Manns Tagebuch 1938 aufmerksam registriert wurde.

Lind, Jakov zeigen
Lind, Jakov: Zitate aus "Selbstporträt" zeigen
Lind, Jakov: Selbstporträt (Buchumschlag) zeigen

Hat Dieter Sevin noch vornehm vom Skandal der "Bedeutung der Nicht-Rezeption" gesprochen (Dieter Sevin, 1992, 6), so ist bei Bernhard Spies schon von "Herabstufung" zu lesen: "Der Hochachtung vor dem wissenschaftlich Erreichten entspricht eine gewisse Herabstufung des Gegenstandsbereiches 'Exil'", der kaum als Parameter für Profilierung und (universitäre) Karriere gilt (Bernhard Spiess, 1996, 11). Für die Relevanz und Unabgeschlossenheit der Exilerfahrung spricht andererseits, dass derzeit dem deutschen P.E.N. mit Said ein Exilant und Immigrant vorsteht.

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