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KAPITEL

1. Problemaufriss
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2. Das Verhältnis der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zum Exil
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3. Literaturgeschichten und Zeitschriften über das Exil
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4. Exilerfahrung und Poetologie
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5. Anhang
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Primus-Heinz Kucher:
Exil und literaturgeschichtliche Reflexion: Überlegungen zu einem (un)auffälligen Missverhältnis


Diese Bilanz - sie will kein Lamento sein - ließe sich fortschreiben oder lakonisch durch die Leistungen der Exilforschung kontrastieren. Doch wichtiger scheint die Frage nach den poetologischen Ansätzen und Leistungen der Exilerfahrung zu sein, was über die jeweilige biographisch-historische Narration hinausweist. Anders formuliert: wie vermittelt sich die traumatische Erfahrung von exilierten Schriftsteller/inne/n auf der Ebene der Texte? Können wir uns heute noch mit den konventionellen Parametern begnügen, wenn es um die ästhetische Ausdifferenzierung von Schrift und Erfahrung geht? Denn dass Exilierungen - die nach 1945 fortbestehenden miteingeschlossen - Traumata nach sich ziehen, steht mit Blick auf zahlreiche Autor/inne/n-Reflexionen oder Kontroversen (z. B. Fritz Beer und Chaim Noll, 1994, 125-39) außer Zweifel. Dieses Wissen kann freilich nicht genügen. Es gilt weiter zu fragen, auch und gerade angesichts der Schwierigkeit eines wirklichen Gesprächs, das für Überlebende oft oder gar "stets ein Täuschungsverhältnis" bereithält, sowie angesichts der Erkenntnis, dass "Normalität obszön ist". (Robert Schindel, 1999, 3-8).

Beer, Fritz zeigen
Noll, Chaim zeigen
Schindel, Robert zeigen
Schindel, Robert zeigen

Einen interessanten Ansatz hierzu lieferte Elisabeth Bronfen (1993, 167-183). Sie meint, dass das Exiltrauma an bestimmte Sprachbilder geknüpft ist und spezifische Narrationen generiere, in denen insbesondere die Dramatik der "Entortung", des zerbrochenen Lebens eine Rolle spiele, worauf mit neuen Selbstentwürfen reagiert werde. Schnitt- und Bruchstellen steuern solche Entwürfe an, imaginative Doppelungen in einem Zustand diskontinuierlichen Seins, als das die Exilrealität meist erfahren wird.

Bronfen illustriert dies einerseits an Vladimir Nabokovs "The real life of Sebastian Knight" (1941), andererseits an "Lisas Zimmer" von Hilde Spiel (1961/65) und zeigt, wie in verschiedenen Kontexten die "unheimliche Zwischenposition des Exils" ästhetisch unterschiedlich, jedenfalls aber im differenzierten Aufgreifen von Ursprungsmythen, in Form der Flucht in Erinnerung, in Auslöschung und Annahme oder Abtötung des Femden im Ich fruchtbar wird (Bronfen, 1993, 179).

Nabokov, Vladimir zeigen
Nabokov, Vladimir zeigen

Jean Améry hat seine Verlusterfahrungen mehrfach beschrieben. Unter anderem zitiert er eine Briefstelle des deportierten Lyrikers Alfred Mombert: "Alles fließt von mir ab, wie ein großer Regen" (Jean Améry, 1966, 100), eine Stelle, die ihm die Brücke bildet hin zur Beraubung der eigenen Geschichte durch deren gewaltsames Herausbrechen aus dem mit "Heimat" verwobenen Raum, in den es keine Rückkehr geben konnte:

"Es bestand in der stückweisen Demontierung unserer Vergangenheit, was nicht abgehen konnte ohne Selbstverachtung und Haß gegen das verlorene Ich. Die Feindheimat wurde von uns vernichtet, und zugleich tilgten wir das Stück eigenen Lebens aus, das mit ihr gekoppelt war [...] Therapie hätte nur die geschichtliche Praxis sein können, ich meine: die deutsche Revolution und mit ihr das kraftvoll sich ausdrückende Verlangen der Heimat nach unserer Wiederkehr. Aber die Revolution fand nicht statt, und unsere Wiederkehr war für die Heimat nichts als eine Verlegenheit." (Jean Amery, 1966, 88)

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