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KAPITEL

1. Einleitung
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2. Biographische Notizen
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3. In Großbritannien
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4. Die Schriftstellerin
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5. Anhang
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Siglinde Kaiser-Bolbecher:
Stella Rotenberg (1916)


Stella Rotenberg wurde am 27. März 1916 in Wien geboren, ist als Stella Siegmann im 9. und im 20. Wiener Gemeindebezirk aufgewachsen, in bescheidenen, aber nicht ärmlichen Verhältnissen. Die Eltern, Bernhard und Regine Siegmann, im Textilhandel tätig, ermöglichten ihr und dem älteren Bruder Erwin den Besuch des Gymnasiums. Badezimmer, Telefon, Ferienaufenthalte brachten ihr viele Jahre später in England den Ruf ein, aus wohlhabendem Hause zu stammen.

Rotenberg, Stella zeigen

Als Schülerin war sie Mitglied der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler und nahm 1931 an der Sommerkolonie in Zeltweg teil, wo sie den jungen Schriftsteller Jura Soyfer, der durch Beiträge in Schüler- und Studentenzeitungen sowie durch seine satirischen Texte im "Politischen Kabarett" der Sozialistischen Veranstaltungsgruppe bekannt war, kennen lernte. Zwei politische Ereignisse der Ersten Republik, beide durch den Stillstand der Straßenbahnen gekennzeichnet, sind ihr scharf im Gedächtnis geblieben. Im Rückblick scheinen sie als Markierungen auf dem Weg in den Untergang auf, während die individuelle Chronik noch friedlichere Erinnerungen verzeichnet. Der eine Tag, der 15. Juli 1927, war ein goldener Sommertag, an dem der Aufbruch in die Ferien verschoben werden musste, während in die große Demonstration, die sich gegen ein Fehlurteil der Justiz am Ring formiert hatte, hineingesäbelt und geschossen wurde; der unbedachten Brandlegung im Justizpalast folgte ein unverantwortlicher Polizeieinsatz. Der zweite Tag, der 12. Februar 1934, ein bewölkter Wintermorgen, war ein Schulschwänztag, der allerdings nichts mit dem Stillstand der öffentlichen Verkehrsmittel zu tun hatte, sondern mit dem unstillbaren Verlangen, in Ruhe in einem Kaffeehaus zu lesen. An diesem Tag wurde ein unbekümmertes Mädchen zu einer verunsicherten jungen Erwachsenen. Danach fehlten der Schuldirektor und einige Mitschülerinnen, und man sprach von einem Lager, in dem Verdächtige ohne Gerichtsverfahren festgehalten würden. "Freiheit war nicht mehr selbstverständlich. Man hütetete die Zunge, lebte vorsichtig." ("Gott erhalte - das kleinere Übel". In: Stella Rotenberg: Ungewissen Ursprungs 1997, 63) Ein in diesen Tagen des Widerstands gegen die austrofaschistische Diktatur von einem Verehrer zugesandter Mimosenstrauch mit Vergissmeinnicht wird zum spiegelnden Emblem: Mimosenduft, Mimosengelb - Blumen der Unschuld.

Nach dem "Anschluss" an das Deutsche Reich wurde Stella Rotenberg vom Studium der Medizin an der Universität Wien aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ausgeschlossen. Zunächst versuchte der Bruder nach Liechtenstein, in die Schweiz, nach Holland zu entkommen, schließlich gelangte er mit einem Schiff über Kiel nach Schweden, wo man ihn ohne gültige Papiere und mittellos, wie er war, Asyl gewährte. In seinen vorsichtig formulierten Briefen drängte er entschieden zur Flucht. Was die Tage, Wochen, Monate nach Hitlers Einmarsch in Österreich kennzeichnet, ist Entrechtung, Gewalt, Demütigung. Das Dasein, der Unterhalt, die Zukunft dem Untergang preisgegeben: "Der Tod ist uns nahegetreten/einen Untergang lang." ("Lied der Entronnenen").

Der elterliche Betrieb wird 'arisiert', die Wohnung zunächst geplündert, dann enteignet; die Eltern und Stella landen in einer Massenunterkunft in der Zelinkagasse; ein Onkel wird in der zum Gestapogefängnis umfunktionierten Schule in der Karajangasse in Wien-Brigittenau taub geschlagen. Von dumpfer Verzweiflung spricht Stella Rotenberg, von einem Herumirren durch die Straßen, von stundenlangem Anstehen bei Ämtern, um die Ausreise zu betreiben, ihre Flucht vorzubereiten in dem Wissen, dass die Eltern keine Möglichkeit zur Ausreise für sich sahen, zum einen wegen ihres Alters und zum anderen wegen der zu entrichtenden Abgaben an die NS-Vermögensverkehrsstelle. Sie versuchte über das Home Office ein Stipendium für Medizin in London zu erhalten und oder eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis als Pflegerin in einem britischen Spital. Gleichzeitig suchte sie um Arbeitserlaubnis in Holland an. Ein Mann aus Leiden forderte sie auch wirklich als Hausgehilfin an. Mit einem "J"-Pass in der Tasche stieg sie am 14. März 1939 am Westbahnhof in den Zug, die Eltern zurücklassend. Beim Umsteigen in Köln brachten ihr die großen Schlagzeilen der Tageszeitungen zur Kenntnis: "Unser Führer in der Tschechoslowakei!"

NS-Vermögensverkehrsstelle zeigen
NS-Vermögensverkehrsstelle zeigen

Verzweifelt und erschöpft über die Lage der in Wien verbliebenen Eltern kam sie in Leiden an, wo ihr Arbeitgeber, ein allein stehender Mann mittleren Alters, auf Haushaltsführung und vielleicht "mehr" wartete. Stella war außerstande, einen Haushalt zu führen oder eine nette Gesellschafterin zu abzugeben, sie weinte und entzog sich ihrem Retter. In Den Haag meldete sie sich beim Flüchtlingskommitee, wo man Verständnis zeigte. Sie hatte wochenlang wenig gegessen, viel geweint und wurde als abgängig von der Polizei gesucht. Das Flüchtlingskommitee entschied auf Erholung, daran anschließend erhielt sie Arbeit als Pflegerin in einem Waisenhaus für deutsche Flüchtlingskinder. Währenddessen lief ihr zweites Arbeitsansuchen in Großbritannien. Stella Rotenberg erhielt über das Home Office eine Adresse in Oxstead, Surrey. Wenig später stellte sich heraus, dass dies lebensrettend war. Im August 1939, versehen mit einem Hausgehilfinnen-Visum (domestic permit), ausgestellt auf zwei Jahre, eskortiert von zwei Amtsorganen der Fremdenpolizei, bestieg Stella Rotenberg ein Schiff nach Großbritannien.

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