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KAPITEL

1. Die literarische Bedeutung Berthold Viertels
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2. Jüdische Herkunft
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3. Jugendlicher Ausbruchsversuch und Rückkehr
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4. Berthold Viertel und Karl Kraus
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5. Republikanismus, Weimarer Republik
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6. Theaterkonzeption, Kultur und Zivilisation, Rotes Wien
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7. Berthold Viertel und der Sozialismus
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8. Die Stellung zur Österreich-Frage
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9. Literarische Strategien
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10. Das Verhältnis zum Exil
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11. Die Stellung innerhalb des deutschsprachigen Exils in den USA
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12. Die Nachkriegssituation
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13. Der "Reichskanzleistil"
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14. Die spätere Theaterauffassung
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15. Zur Rezeption des literarischen Werks
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16. Anhang
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Konstantin Kaiser:
Berthold Viertel (1885-1953)


Viertel fand bei seiner Rückkehr am deutschsprachigen Theater - ob in Berlin, Düsseldorf oder Wien - einen "neuen Ton" vor, der ihn erschreckte und den er mit "Reichskanzleistil" benannte:

"Dieser Ton war entweder so laut, dass ich ihn nicht anzuhören vermochte und mit den Worten den Sinn verlor - oder, in jäher Abwechslung, so leise, so privat ..., daß ich erst recht nichts ... in mich aufnehmen konnte."

Es fehlten "alle Zwischentöne", all die "Übergänge", die "die große und reiche Skala der menschlichen Rede" ausmachen. Der "Reichskanzleistil" war gleichsam das akustische Symbol der unter der nationalsozialistischen Herrschaft eingetretenen Enthumanisierung und Zerstörung der Kunst. Was Viertel am Theater mit durch das Exil geschärften Augen und Ohren beobachten konnte, hatte sich auch in Literatur und Malerei in je spezifischer Form durchgesetzt: die Polarisierung in ein idyllisierendes und in ein heroisierendes Genre. Entweder wurde resignativ Kleinmenschliches ohne handlungsmäßige Folgen zur Unterhaltung und zum Trost dargeboten, oder es wurde schicksalhaftes Tun ohne Zusammenhang mit den wesentlichen menschlichen Interessen verherrlicht. Durch die aufgerissene Lücke zwischen diesen beiden Polen waren, um ein Bild zu gebrauchen, die Viehwaggons mit den Deportierten in die Vernichtungslager gerollt, ohne dass deren Geschicke die "Mitmenschen" und die ihr Gemüt bedienende Kunst zu rühren vermocht hätten. Die Schwierigkeiten, die Viertel am Burgtheater immer wieder zu überwinden hatte, dürften nicht nur dem Vorurteil, dessen die 'Daheimgebliebenen' in schamloser Weise gegen den Emigranten fähig waren, zuzuschreiben sein, sondern auch Viertels Kritik an den eingerissenen Zuständen und seinem Bestreben, das Theater aus der falschen Polarisierung des "Reichskanzleistils" wieder heraus zu führen.

Burgtheater zeigen
Viertel, Berthold in Wien zeigen

Dazu kamen, wie bereits erwähnt, die Verdächtigungen durch einen fanatischen Antikommunismus, der aus Viertels Verbindung zu Brecht (Inszenierung von Maxim Gorkis "Wassa Schelesnowa" mit dem Berliner Ensemble im Dezember 1949) und seiner freundlichen Einstellung zu dem von Emigranten mit Hilfe der kommunistischen Partei und der sowjetischen Besatzungsmacht gegründeten "Neuen Theater in der Scala" Nahrung sog. Sean O'Caseys Anti-Kriegs-Stück "Der Preispokal" konnte er 1952 nur am Zürcher Schauspielhaus realisieren, da in Wien - fälschlicherweise - ventiliert worden war, O'Casey sei Kommunist. Viertel erhielt in Wien bis knapp vor seinem Tod keine Wohnung, musste dauernd umziehen und erlangte die österreichische Staatsbürgerschaft erst durch die Intervention des Bundespräsidenten Theodor Körner wieder.

Auch finanziell waren er und Elisabeth Neumann, die in Wien kaum eine Beschäftigung als Schauspielerin fand, nicht auf Rosen gebettet. Angesichts solcher Widrigkeiten nötigt das von Viertel in seinen letzten fünf Jahren bewältigte Arbeitspensum Respekt ab - drei Inszenierungen in Zürich, zwei in Berlin, eine in Salzburg, dreizehn am Burg- und Akademietheater in Wien. Er arbeitete mit Schauspielern wie Will Quadflieg, Therese Giehse, Hermann Wlach (seinem Jugendfreund), Helene Thimig, Käthe Gold, Curd Jürgens, Josef Meinrad, Albin Skoda, Hedwig Bleibtreu, Heinz Moog, Maria Eis, Erich Auer, Eva Zilcher usw. Die Besetzung des NS-Stars Werner Krauß in Strindbergs "Die Kronbraut" 1949 war ein Zugeständnis, das Viertel die Weiterarbeit ermöglichte und ihm den unerwünschten Beifall des späteren Werner Krauß-Biographen Hans Weigel eintrug. Neben dem bereits Genannten inszenierte Viertel mit Kleists "Der zerbrochne Krug", Tschechows "Die Möwe", Gerhart Hauptmanns "Die Ratten" Stücke der dramatischen Weltliteratur. Wie seine Aufsätze in den Programmheften belegen, bemühte sich Viertel nun darum, diese Stücke aus den besonderen historischen und sozialen Bedingungen ihrer Entstehung zu deuten, und leitete gerade daraus ihre internationale Bedeutung ab.

Tschechow, Anton: Die Möwe zeigen

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