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KAPITEL

1. Verfolgung, Vertreibung und die Germanistik
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2. 'Anschluss' in Wien, Emigrationsbedingungen
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3. Flüchtlingsland USA
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4. Literatur als Erinnerung und Heimat
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5. Literaturwissenschaft als Mahnung und Bewahrung
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6. Anhang
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Beatrix Müller-Kampel:
Germanistik als Erinnerung, Mahnung und Heimat. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada


Spätestens die pogromartigen Ausschreitungen im Zuge des 'Anschlusses' hatten den jüdischen Gymnasiasten und ihren Eltern vorgeführt, dass die Flucht aus Wien die einzige Überlebensmöglichkeit bot. An diesem Abend des 11. März 1938 hatte sich Wien, wie Carl Zuckmayer es schildert, in eine Hölle verwandelt, in ein

"Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch [...]. Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen: die einen in Angst, die andren in Lüge, die andren in wildem, haßerfülltem Triumph. Ich hatte in meinem Leben einiges an menschlicher Entfesselung, Entsetzen oder Panik gesehen. [...] Ich erlebte die erste Zeit der Naziherrschaft in Berlin. Nichts davon war mit diesen Tagen in Wien zu vergleichen. Was hier entfesselt wurde, hatte mit der 'Machtergreifung' in Deutschland [...] nichts mehr zu tun. Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Mißgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen Rachsucht - und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt." (Zuckmayer 1966, 71 f.)

Rund 220.000 Juden befanden sich zur Zeit des 'Anschlusses' in Österreich, (vgl. Jelavich 1987, 232) 170.000 davon in Wien (was ca. 10% der Stadtbevölkerung entsprach). (vgl. Botz 1987, 360) Schon in den ersten Tagen hatten die neuen Herren 70.000 Juden und politisch Missliebige verhaftet (vgl. Moser 1966, 5) und sich rund 3.800 Juden das Leben genommen. (vgl. Spaulding 1968, 100) Stufenweise erfolgte die Ausgliederung der verbliebenen Wiener Juden aus der Gesellschaft: Sie reichte von Erniedrigungs-Ritualen wie Identitätszerstörungen, Demütigungen und Beschimpfungen über Verhaftungen, physische Angriffe und Misshandlungen, Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz, erzwungene Emigration bis hin zur Abschiebung und schließlich zur Vernichtung. (vgl. Botz 1987, 361-374) Nachdem die NS-Bürokratie vorerst noch zwischen legaler Emigration, erzwungener Emigration, Flucht und Vertreibung unterschieden hatte (wenn dies auch nicht den Gegebenheiten entsprach), so wurde mit März 1938 die Vertreibung praktisches Programm. (vgl. Toury 1986, 59) "Darr Jud muß weg und sein Gerschtl bleibt da." Der rabiaten Hetzparole aus dem "Völkischen Beobachter" (Wiener Ausgabe vom 26. April 1938, zit. nach Botz 1987, 361) sollten u. a. die in Wien gegründete "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" genügen (vgl. Anderl 1994, 275-299), auch spezielle Reisebüros, die begannen, Schiffe für 'nicht-arische' Passagiere zu chartern und einschlägige 'Reisen' zu organisieren (vgl. Toury 1986, 53), und nicht zuletzt die von den Vertriebenen zu bezahlende 'Fluchtsteuer', die in Deutschland schon vor dem 'Anschluss' rund 539 Millionen Reichsmark eingebracht hatte. (vgl. Strauss 1981, 343)

Indessen hatten sich in so gut wie allen Ländern, die sich aufgrund ihrer geographischen Nähe oder politischen Gegebenheiten zur Flucht anboten, nach 1938 die Asylbedingungen spürbar verschärft - trotz öffentlicher Lippenbekenntnisse und Willensbekundungen (wie sie beispielsweise bei der von Franklin D. Roosevelt initiierten Konferenz von Evian im Juli 1938 geäußert wurden).

Konferenz von Evian zeigen
Konferenz von Evian zeigen
Roosevelt, Franklin D. zeigen

Zur Asylpolitik der verschiedenen Länder vgl. den Überblick von Walter 1984.

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