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KAPITEL

1. Verfolgung, Vertreibung und die Germanistik
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2. 'Anschluss' in Wien, Emigrationsbedingungen
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3. Flüchtlingsland USA
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4. Literatur als Erinnerung und Heimat
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5. Literaturwissenschaft als Mahnung und Bewahrung
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6. Anhang
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Beatrix Müller-Kampel:
Germanistik als Erinnerung, Mahnung und Heimat. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada


Wer aus Österreich warum, unter welchen Bedingungen und wohin vertrieben wurde und was aus den Flüchtlingen geworden sei - diesen Fragen wandten sich historische Sozialwissenschaft, politische Historiographie und literarische Exilforschung erst seit den 1960er Jahren zu. Als erste rückten dabei die großen Namen in das Blickfeld des Bewusstseins: die Schriftsteller Hermann Broch, Elias Canetti, Robert Musil, Joseph Roth, Stefan Zweig; Künstler, Musiker und Filmschaffende wie Otto Klemperer, Oskar Kokoschka, Ernst Krenek, Otto Preminger, Max Reinhardt, Arnold Schönberg, Billy Wilder; nicht zuletzt Sigmund Freud und seine Tochter Anna. Wie selbstverständlich drängte sich der Eindruck auf, die Vertreibungspolitik hätte in erster Linie Intellektuelle und darunter vor allem anerkannte Persönlichkeiten betroffen - geradezu ein Who's who aus Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft. (vgl. etwa Spaulding 1968, 85 u. 92)

Freud, Sigmund zeigen
Krenek Ernst zeigen

Doch als der Zweite Weltkrieg ausbrach, flüchteten alle Juden, denen es noch irgend möglich war - ein in keiner Weise monolithischer sozialer, professionaler, ökonomischer, religiöser und politischer Querschnitt aus der Gemeinschaft. (vgl. Strauss 1988, 291) Zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung und Flucht standen die später in den USA und Kanada germanistisch und komparatistisch Tätigen keineswegs im Lichte der Öffentlichkeit, und ihre Eltern gingen höchst unterschiedlichen Berufen nach. Deren berufliche Skala reichte vom Schildermaler, kleinen Gewerbetreibenden über den Künstleragenten bis hin zum Makler und Großindustriellen. Die Lebenswege von Evelyn Torton Beck, Dorrit Cohn, Hans Eichner, Peter Heller, Ruth Klüger, Herbert Lederer, Egon Schwarz, Walter H. Sokel und Harry Zohn bestätigen für den Bereich der Geistes- und Literaturwissenschaft, was die Immigrationsforschung ganz allgemein vermutet: dass der größte Beitrag der jüdischen Einwanderer zum Leben Amerikas durch deren Kinder geleistet wurde, dass (nach einem Wort Ralph Waldo Emersons) die erste Generation die Wälder schlägt und die zweite die Paläste baut. (vgl. Karp 1989, 142) Schneller und meist auch leichter war den Jungen die Umstellung auf die neue Sprache und die fremde Kultur gelungen - zumal die Eltern in der Mehrheit agnostisch waren oder ihr jüdisches Erbe auf ein Minimum reduziert hatten. (vgl. Bendix 1990, 51) Und dennoch mag es ihnen ergangen sein wie Stella Hershan, als sie sich schriftstellerisch in die neue Sprache einübte und Geschichten zu schreiben begann:

Klüger, Ruth zeigen
Zohn, Harry zeigen
Klüger, Ruth zeigen
Schwarz, Egon zeigen

"Oddly, most of the stories took place in Vienna. I could not understand why. But suddenly I was fascinated by Austrian history." (Hershan 1991, 197)

Die jüdischen Flüchtlinge waren von einem Regime ausgegrenzt und zuletzt vertrieben worden, das sich stets um kulturhistorische Absicherung bemüht hatte, ein ideologisches Einvernehmen zwischen gegenwärtiger Bestialität und vergangener Philosophie, Kunst und Literatur herzustellen versucht hatte. Mittlerweile weiß man, dass ein Mann abends Goethe und Rilke lesen, Bach und Schubert spielen und am nächsten Morgen in Auschwitz seiner 'Arbeit' nachgehen konnte. (vgl. George Steiner zit. nach Maier 1988, 286) Die vor 1933 mitunter emphatisch vertretene Idee einer kulturellen deutsch-jüdischen Symbiose hatte sich als Täuschung entlarvt, (vgl. Benz 1992, 95 f.) als "the most tragically unrequited love affair in world history". (Zohn 1988, 228) So war es, wie Hans Eichner feststellt,

"(...) damals für einen jüdischen Flüchtling aus Deutschland eine seltsame, vielleicht abwegige Entscheidung, sein Leben gerade dem Studium der deutschen Literatur zu widmen. Aber man hat wohl meist (nicht notwendigerweise und nicht immer) zur Dichtung in seiner Muttersprache eine besonders innige Beziehung". (Eichner o. J. [Typoskript, 8])

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