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KAPITEL

1. Verfolgung, Vertreibung und die Germanistik
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2. 'Anschluss' in Wien, Emigrationsbedingungen
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3. Flüchtlingsland USA
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4. Literatur als Erinnerung und Heimat
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5. Literaturwissenschaft als Mahnung und Bewahrung
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6. Anhang
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Beatrix Müller-Kampel:
Germanistik als Erinnerung, Mahnung und Heimat. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada


Ende der 1960er Jahre war die US-amerikanische Bevölkerung zu 3% jüdisch, aber 8,7% der Hochschullehrer waren Juden, und an den führenden amerikanischen Universitäten waren es 17% (vgl. Steinberg 1974, Tafel 12). Wenn man bedenkt, dass ein überproportional hoher Anteil dieser jüdischen Universitätslehrer in den Fächern Medizin, Jurisprudenz und Psychologie arbeitete, (vgl. Steinberg 1974, Tafel 12) dass weiters bei über 2.000 Hochschulgermanisten im Jahre 1990 nur an die 35 jener Generation von deutschen und österreichischen Flüchtlingen angehörten, denen als Kindern oder Jugendlichen die Flucht geglückt war , ist man geneigt, deren Wirkung im Aufnahmeland USA als relativ gering und unbedeutend anzusehen. (vgl. Eichner o. J. [Typoskript, 9 f.]) Innerhalb ihrer Disziplinen und Tätigkeitsbereiche freilich - der (internationalen) germanistischen Literaturwissenschaft, der Vergleichenden Literaturwissenschaft, des Übersetzungswesens, der Literaturkritik - ist ihr Beitrag nicht hoch genug einzuschätzen. Als (kulturideologisch ebenso vielsagendes wie zweifelhaftes) Indiz dafür mag gelten, dass in den 1970er Jahren US-amerikanische Germanisten ihre Stimme gegen die angebliche institutionelle wie intellektuelle Dominanz emigrierter Kollegen und Kolleginnen aus Deutschland und Österreich erhoben. (vgl. Bathrick 1976, 252-257; Van Cleeve, Willson 1993)

Stein des Anstoßes waren die pädagogische Vermittlung von und die forschungspraktische Orientierung an kulturellen und methodologischen Maßstäben, wie sie in den deutschsprachigen Herkunftsländern üblich waren und sind. Anpassung an die sozialen und intellektuellen Standards der US-amerikanischen Gesellschaft im Sinne eines stärker amerika- und praxisbezogenen Unterrichts wurde eingemahnt. (vgl. Van Cleeve, Willson 1993, 253) Selbst wenn das übelbeleumdete Wort nicht ausgesprochen wird, so schwingt dessen Bedeutung doch unterschwellig mit: jenes der "Überfremdung" der amerikanischen Germanistik durch deren aus Deutschland und Österreich vertriebene Vertreter. (vgl. den provokanten Titel "Modernisierung oder Überfremdung?" [ohne Autor, 1994]) Allan Bloom (vgl. Bloom 1987) warf den Emigranten tatsächlich vor, sie hätten durch ihren Wissensschub zu einer Zersetzung der amerikanischen Wertekultur und ihrer Auflösung in eine unverbindliche Vielfalt der Sinnwelten beigetragen. Es gebe "Gründe zur Annahme," repliziert Egon Schwarz, "daß Allan Blooms Buch Teil einer breit angelegten Kampagne gegen eine humanistische, liberale, pluralistische und kosmopolitische Weltanschauung an den amerikanischen Universitäten ist, wohin sie sich geflüchtet hat, seit sie, einst eine Großmacht im öffentlichen Leben des Landes, zu einer kläglichen Minderheit zusammengeschrumpft ist." (Schwarz 1994, 127)

Schwarz, Egon zeigen

Worin bestand und besteht nun dieses »Fremde«, mit dem man den Flüchtlingen auf ein Neues den Stempel des Anderen aufdrückt? Neben einem in der bürgerlichen Aufklärung wurzelnden wissenschaftlich-pädagogischen Tätigkeitsprofil und bestimmten ästhetischen Urteilsschemata (vgl. Mosse 1988, 201) zählen dazu sicherlich auch der stete, prüfende Blick in die Alte Welt der Täter und ihrer Nachgeborenen, das Bemühen um Vermittlung und Verständigung. Herbert Lederer hat sich "immer weniger als einen Gelehrten, sondern mehr als einen Lerner und Lehrer betrachtet, als einen Mittler und Vermittler zwischen zwei Sprachen, zwei Literaturen, zwei Kulturen. Aber ein Mittler kann man nur sein, wenn man selbst in der Mitte steht." (Lederer 1990, 129) "I write", bekennt Harry Zohn, "as a sort of guardian and professional purveyor of the German-Jewish heritage". (Zohn 1988, 227)

Zweifel und Ernüchterung beschleichen Egon Schwarz mitunter auf seinen Grenzgängen zwischen Kontinenten und Kulturen: "Viel Trost weiß ich auf Grund meiner Erfahrungen nicht zu spenden. Nur schwach flackernd sehe ich Vernunft und Freiheit das geschichtliche Dunkel durchzucken." (Schwarz 1992, 307) Doch "das Mögliche zu tun, um diese Flämmchen vor dem Verlöschen zu bewahren, sie nach Kräften zu schützen und zu nähren, das halte ich für Menschenpflicht und Lebenssinn." (Schwarz 1992, 307) "Also gehe ich überall hin und versuche zu predigen", erklärt Evelyn Torton Beck. "Ich trage verschiedene Hüte - und auch der Wiener Hut sitzt fest auf meinem Kopf." (Torton-Beck 1990, 61)

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