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KAPITEL

1. Behütete Kindheit und Jugend in der Bukowina
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2. Auswanderung nach Amerika
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3. „Der Regenbogen“ erscheint in Czernowitz
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4. Sowjetisierung der Bukowina
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5. Ghetto, Elend, Horror, Todestransporte
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6. Wieder in Amerika
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7. Im Nelly-Sachs-Haus
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8. Poetologische Grundsätze
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9. Das letzte Jahrzehnt
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10. Anhang
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Peter Rychlo:
Rose Ausländers Leben und Dichtung. „Ein denkendes Herz, das singt“


Was bewegt einen Menschen zum Schreiben? Welche Triebkräfte veranlassen ihn, zur Feder zu greifen? In ihrem autobiographischen Essay „Alles kann Motiv sein“ (1971) versucht R. Ausländer diese Frage zu beantworten: „Warum schreibe ich? Vielleicht weil ich in Czernowitz zur Welt kam, weil die Welt in Czernowitz zu mir kam. Jene besondere Landschaft. Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein. Das viersprachige Czernowitz war eine musische Stadt, die viele Künstler, Dichter, Kunst-, Literatur- und Philosophieliebhaber beherbergte. Sie war die Wahlstadt des großartigen jiddischen Fabeldichters Eliezer Steinbarg. Sie hat den bedeutendsten jiddischen Lyriker Itzig Manger und zwei Generationen deutschsprachiger Dichter hervorgebracht. Der jüngste und wichtigste war Paul Celan, der älteste Alfred Margul-Sperber“ (Ausländer, Rose: Die Nacht hat zahllose Augen: Prosa. 1995, 92.) Zu der älteren Generation der deutschsprachigen Dichter, die in der multinationalen und multikulturellen Atmosphäre der Stadt Czernowitz aufgewachsen sind, gehörte auch Rose Ausländer.

Rose Ausländer stammte aus einer beinahe exemplarischen jüdischen Familie, in der sich ost- und westeuropäische Wurzeln verflochten. Ihr Vater Sigmund (Süssi) Scherzer (1871-1920), der in Sadagora, einem kleinen Städtchen in der Nähe von Czernowitz, das Licht der Welt erblickte, das zugleich eines der wichtigsten chassidischen Zentren der Bukowina war, wurde am Hofe des Sadagorer „Wunderrabbi“ jüdisch-orthodox erzogen. Obwohl er sich später einem kaufmännischen Beruf als Prokurist in einer Import-Export-Firma widmen sollte und sogar als liberaler Freidenker galt, gab er doch sein traditionsverpflichtetes Judentum nie völlig auf. Die Mutter, Kathi Etie Rifke Binder (1873-1947), wurde in Czernowitz geboren, aber ihre Familie war aus Berlin in die Bukowina gekommen. Als die Tochter Rosalie Beatrice, die später auch noch den hebräischen Vornamen Ruth erhielt, am 11. Mai 1901 geboren wurde, betrachtete man sie als ein „Ersatzkind“. Denn vor einigen Monaten, im Februar 1901, wurde das Kindermädchen der Familie von einem durchgehenden Pferdegespann niedergerannt und zusammen mit dem 18 Monate alten Sohn des Ehepaars von dem schweren Fuhrwagen überrollt. Das Kindermädchen erlitt schwere körperliche Schäden, das Kind starb. Die bunte, schillernde Welt des Chassidismus, die Martin Buber mit seinen „Chassidischen Büchern“ und seiner „Legende des Baalschem“ für die deutschsprachige Leserschaft entdeckte, gibt Rose Ausländer in ihrem Gedicht „Der Vater“ wieder:

Am Hof des Wunderrabbi von Sadagora / lernte der Vater die schwierigen Geheimnisse / Seine Ohrlocken läuteten Legenden / in den Händen hielt er den hebräischen Wald // Bäume aus heiligen Buchstaben streckten Wurzeln / von Sadagora bis Czernowitz / Der Jordan mündete damals in den Pruth - / magische Melodien im Wasser / Der Vater sang sie lernte und sang das / Erbe der Ahnen verwuchs mit / Wald und Gewässern // Hinter den Weiden neben der Mühle / stand die geträumte Leiter / an den Himmel gelehnt / Jakob nahm auf den Kampf mit den Engeln / immer siegte sein Wille // Von Sadagora nach Czernowitz und / zurück zum Heiligen Hof gingen die Wunder / nisteten sich ein im Gefühl / Der Knabe erlernte den Himmel kannte die / Ausmaße der Engel ihre Distanzen und Zahl / war bewandert im Labyrinth der Kabbala. // Einmal wollte der Siebzehnjährige / die andere Seite sehn / ging in die weltliche Stadt / verliebte sich in sie / blieb an ihr haften

(Ausländer, Rose: Wir pflanzen Zedern: Gedichte 1957-1963. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 98)

Die Kindheitserinerungen verflechten sich hier mit alttestamentarischen Sagen und den mystischen Vorstellungen des Chassidismus. Biographisches verbindet sich mit dem Mythischen, und der durchschimmernde phantastische Hintergrund ruft eine märchenhafte Atmosphäre von „1001 Nacht“ ins Gedächtnis. In Czernowitz besuchte Rose Ausländer die sechsklassige Mädchenvolksschule und das Mädchenlyzeum. Durch kriegsbedingte Vertreibung setzt sie ihre Mittelschulbildung in Budapest (1915) und Wien (1916) fort. Danach besucht sie die Germinal-Handelsschule der Wiener Kaufmannschaft (dort erlernt sie die Gabelsberger Stenoschrift, die sie dann auch für die Erstfassungen ihrer Gedichte verwenden wird) und (vermutlich) für ein Semester die Universität Czernowitz, wo sie als freie Hörerin Literatur- und Philosophievorlesungen besucht. Die klassische Literatur war ihr von Kindheit an vertraut. Goethe, Schiller und Heine galten als „Dreigestirn“ der deutschen Dichtung, Heines „Rabbi von Bacharach“ las Sigmund Scherzer seiner Tochter vor. Aber schon früh, im Alter von 15-16 Jahren, geriet R. Ausländer unter den Einfluss der Philosophie, und eine Zeit lang bedeuteten ihr die Philosophen mehr als die Dichter. Zusammen mit anderen jungen Leuten, die sich außerhalb von Schule und Universität im sogenannten „Ethischen Seminar“ trafen, bekannte sie sich zu Platon, zu dem Berliner Philosophen Constantin Brunner und zu Spinoza. Insbesondere die Werke des Holländers Baruch (Benedikt) Spinoza, die sie in jungen Jahren studierte, beeindruckten sie nachhaltig. Noch in den späten Gedichten finden sich Spuren der Lektüre des Philosophen, der sich seinen Lebensunterhalt als Brillenschleifer verdient hatte:

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