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KAPITEL

1. Behütete Kindheit und Jugend in der Bukowina
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2. Auswanderung nach Amerika
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3. „Der Regenbogen“ erscheint in Czernowitz
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4. Sowjetisierung der Bukowina
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5. Ghetto, Elend, Horror, Todestransporte
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6. Wieder in Amerika
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7. Im Nelly-Sachs-Haus
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8. Poetologische Grundsätze
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9. Das letzte Jahrzehnt
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10. Anhang
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Peter Rychlo:
Rose Ausländers Leben und Dichtung. „Ein denkendes Herz, das singt“


1965 erscheint im Wiener „Bergland-Verlag“ – nach einer Pause von einem Vierteljahrhundert – ihr zweiter Gedichtband „Blinder Sommer“. „Nach allem, was sie hinter sich gebracht hat, ist es eine literarische Auferstehung“, meint Helmut Braun (Braun, Helmut. “Ich bin fünftausend Jahre jung”: Zur Biographie von Rose Ausländer. Stuttgart: Radius Verlag 1999, S. 110). Das Buch findet noch wenig Widerhall, hat aber für die Autorin eine wichtige „Werbefunktion“ bei den Medien und den Verlagen. Im gleichen Jahr verlässt sie die USA und übersiedelt zuerst nach Wien und später in die Bundesrepublik Deutschland, um sich von dem Element ihrer Muttersprache umgeben zu fühlen. Hier bekommt sie Entschädigungsrente als Verfolgte des Naziregimes und kann ihren langjährigen Traum vom Reisen verwirklichen. Sie besucht Frankreich, Italien, Holland, Israel und andere Länder. Eine Fülle von herrlichen Gedichten entsteht auf diesen Reisen. Doch immer noch lebt sie auf gepackten Koffern in einer Pension. Diesen „modus vivendi“ hat sie sich in vielen Jahrzenten des unruhigen Wanderlebens angeeignet („Fliegend / auf einer Luftschaukel / Europa Amerika Europa // ich wohne nicht / ich lebe“, so heißt es in ihrer „Biographische Notiz“: vgl. Ausländer, Rose: Gelassen atmet der Tag. Gedichte 1976. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1992, S. 204).

Bei einem Sturz zieht sie sich einen Oberschenkelbruch zu und ist viele Monate lang ans Bett gefesselt. Sie braucht dauernde Pflege und entscheidet sich für das Altersheim der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf, das sogenannte Nelly-Sachs-Haus. Hier beginnt diese nicht mehr ganz junge Frau, die damals eigentlich noch keinen Namen in der Literatur hat, ein neues Leben, das sich durch intensivste schöpferische Arbeit kennzeichnet. Nicht weniger als zwei Dutzend neue Gedichtbände erscheinen während dieser Zeit: „36 Gerechte“ (1967), „Inventar“ (1972), „Ohne Visum“ (1974), „Andere Zeichen“ (1975), „Noch ist Raum“ (1976), „Doppelspiel“ (1977), „Aschensommer“ (1978), „Mutterland“ (1978) oder „Es bleibt noch viel zu sagen“ (1978). In manchen Jahren publiziert sie zwei bis drei Bände im Jahr. Die stärkste Resonanz hatte der 1976 von Helmut Braun in seinem „Literarischen Verlag“ Köln herausgebrachte umfangreiche Band „Gesammelte Gedichte“, der für sie einen entscheidenden Durchbruch bedeutete. Nach seinem Erscheinen geriet Rose Ausländer in den Fokus der Medien und der Literaturkritik, die sie bis dahin nur wenig beachtet hatten. Sie beeilt sich, arbeitet geradezu fieberhaft, um alle poetischen Bilder und Visionen, die sie bedrängen, noch dem Papier anvertrauen zu können. Dabei hält sie sich aber an das lateinische Prinzip „festina lente!“, indem sie zugleich an sich selbst höchste Ansprüche stellt. „Mein Arbeitstempo, sagt sie, „ist sehr schnell und sehr langsam: Die erste Fassung eines Textes – Lyrik oder Kurzprosa – erfolgt meistens in wenigen Minuten. Dann beginnt die tagelange, wochen- und manchmal jahrelange Arbeit, das Be- und Umarbeiten. Von manchen Gedichten mache ich zwanzig Fassungen, bis eine mich befriedigt – oder keine“ (Ausländer, Rose: Die Nacht hat zahllose Augen. Prosa, S. 104.)

Wenn ich verzweifelt bin / schreib ich Gedichte // Bin ich fröhlich / schreiben sich Gedichte / in mich // Wer bin ich / wenn ich nicht / schreibe.

(Ausländer, Rose: Gelassen atmet der Tag. Gedichte 1976, S. 154)

Erst im hohen Alter, in ihrer letzten Lebensphase, erreicht Rose Ausländer ein breiteres Leserpublikum und die ihr gebührende Popularität. Tausende enthusiastische Leserbriefe stapeln sich in ihrem kleinen Zimmer im Nelly Sachs-Haus. Zahlreiche Literaturpreise werden ihr zugesprochen: Silberner Heine-Taler des Hoffmann & Campe Verlages (1966), Droste-Preis der Stadt Meersburg (1967), Ida Dehmel-Preis der CEDOK und Andreas Gryphius-Preis (1977), Roswitha-Medaille der Stadt Bad Gandersheim (1988), Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste (1984), Literaturpreis des Verbandes der Evangelischen Büchereien für „Mein Atem heißt jetzt“ (1986). Im Jahre 1984 wird sie mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. 1984 erscheinen im S. Fischer Verlag die ersten Bände ihrer „Gesammelten Werke“ (8 Bände), deren Herausgabe erst 1990 abgeschlossen wird.

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