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KAPITEL

1. Behütete Kindheit und Jugend in der Bukowina
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2. Auswanderung nach Amerika
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3. „Der Regenbogen“ erscheint in Czernowitz
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4. Sowjetisierung der Bukowina
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5. Ghetto, Elend, Horror, Todestransporte
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6. Wieder in Amerika
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7. Im Nelly-Sachs-Haus
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8. Poetologische Grundsätze
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9. Das letzte Jahrzehnt
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10. Anhang
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Peter Rychlo:
Rose Ausländers Leben und Dichtung. „Ein denkendes Herz, das singt“


Man bezeichnet Rose Ausländers Lyrik als eine Dichtung, die „ohne falsche Scham ‚schön‘ zu sein versucht“ (Franz Norbert Mennemeier. Nach: Wallmann, Jürgen P.: Nachwort. In: Rose Ausländer: Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte 1927-1947, S. 175). Die Dichterin hatte ein merkwürdig feines Gefühl für die Ästhetisierung ganz gewöhnlicher, zuweilen sogar banaler Dinge oder Vorgänge. In ihren Gedichten erscheint die Wirklichkeit auf eine wundersame Weise verwandelt, sie befindet sich nahezu in einem schwebenden Zustand. „Ich habe, was man Wirklichkeit nennt“, sagt die Dichterin, „auf meine Weise geträumt, das Geträumte in Worte verwandelt und meine geträumte Wortwirklichkeit in die Wirklichkeit der Welt hinausgeschickt. Und die Welt ist zu mir zurückgekommen.“ (Schaumann, Lore: Besuch bei Rose Ausländer. In: Rose Ausländer. Materialien zu Leben und Werk. Hrsg. von Helmut Braun. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1991, S. 85)

Dabei ist ihre Aufnahme der realen Welt durch ihre jüdische Abstammung, ihre chassidischen Wurzeln sowie ihr unorthodoxes Verständnis der Natur und des Universums bedingt. „Alle Beziehungen, die Rose Ausländer zu ihrer jüdischen Herkunft entfaltet“, bemerkt dazu Gerhart Baumann, „wirken gleichermaßen dicht wie frei, undogmatisch, von einer Gläubigkeit, die zahlreiche Bekenntnisse umspannt: Religion im Ursprungsinn als Bindung verstanden, nie jedoch als Zwang. Sie schreibt keine ‚Hebräischen Balladen‘ wie Else Lasker-Schüler, in denen sich alttestamentarische Vorwürfe mit orientalischen vereinigen; biblische Gestalten dienen ihr nicht zu Masken für eine Selbstaussprache. Sie weiß sich auch nicht mit jener Strenge auf den Spuren der Propheten und Psalmisten wie Nelly Sachs; die Erlösung der Schöpfung bildet nicht ihren wegweisenden Vorwurf. Das Bekenntnis, welches Rose Ausländer zu ihrer jüdischen Herkunft, zu ihrem Wesen ablegt, wahrt jenen innigen Abstand, der eine ferne Nähe ermöglicht – eine Nähe, die an Marc Chagall gemahnt, mit dem sie zahlreiche Entsprechungen verbindet.“ (Baumann, Gerhart: Aufbruch in das „Land Anfang“. In: Rose Ausländer. Materialien zu Leben und Werk., S. 142) Diese Entsprechungen sind aber nicht okkasionell, nicht oberflächlich, sie betreffen die Substanz, die Denkensart. In ihren Gedichten schafft Rose Ausländer eine autonome literarische Parallele zu Chagalls Bildern, wie es natürlicher und adäquater kaum vorstellbar ist, wie es z. B. Das Gedicht „Im Chagall-Dorf“ beweist:

Schiefe Giebel / hängen am / Horizont // Der Brunnen schlummert / beleuchtet von / Katzenaugen // Die Bäuerin / melkt die Ziege / im Traumstall // Blau / der Kirschbaum am Dach / wo der bärtige Greis / geigt // Die Braut / schaut ins Blumenaug / schwebt auf dem Schleier / über der Nachtsteppe // Im Chagall-Dorf / weidet die Kuh / auf der Mondwiese / goldne Wölfe / beschützen die Lämmer.

(Ausländer, Rose: Wir pflanzen Zedern. Gedichte 1957-1969, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 119)

Hinter ihren Texten steht die reiche Entwicklungsgeschichte der deutschen Dichtung romantisch-symbolistischer Prägung, die heutzutage schon etwas „archaisch“ und „altmodisch“ klingen mag. Was heute an der Romantik als nicht mehr zeitgemäß erscheinen mag, weil es allzu blumig oder allzu pathetisch wirkt, bekommt bei ihr eine organische und überzeugende Kraft des unmittelbaren Erlebnisses. Die einfachsten Worte erhalten dadurch einen neuen Glanz. Die sparsamsten dichterischen Mittel wie Rhythmus, Wort- und Lautwiederholung, Alliteration und Assonanz, syntaktische Gliederung und Parallelismus bewirken eine Suggestion von unvergleichbarem ästhetischen Reiz:

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