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KAPITEL

1. Behütete Kindheit und Jugend in der Bukowina
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2. Auswanderung nach Amerika
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3. „Der Regenbogen“ erscheint in Czernowitz
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4. Sowjetisierung der Bukowina
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5. Ghetto, Elend, Horror, Todestransporte
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6. Wieder in Amerika
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7. Im Nelly-Sachs-Haus
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8. Poetologische Grundsätze
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9. Das letzte Jahrzehnt
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10. Anhang
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Peter Rychlo:
Rose Ausländers Leben und Dichtung. „Ein denkendes Herz, das singt“


Nachdem Ende Juni 1940 im Zuge des so genannten Hitler-Stalin-Paktes die Rote Armee in Czernowitz kampflos einmarschiert war und die Nordbukowina samt Bessarabien der Sowjetunion zugeschlagen worden war, erlebte Rose Ausländer eine der größten Erschütterungen ihres Lebens. „Bis die Bomben fielen“, also die Hölle begann, gab es eine Vorhölle. Davon zeugen die neuentdeckten Unterlagen, die sich im Archiv des Ukrainischen Sicherheitsdienstes in Černivci/Czernowitz befinden. Es geht um eine bis heute in den Lebensbeschreibungen der Dichterin unbekannte Episode: Am 5. November 1940 wurde Rose Ausländer-Scherzer „wegen des Spionageverdachts zugunsten eines der ausländischen Staaten“ vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet. Gegen sie wurde ein Untersuchungsverfahren begonnen, das etwa dreieinhalb Monate dauerte. Die Dichterin hielt man die gesamte Zeit über im Gefängnis des NKWD in Czernowitz inhaftiert, was für sie ein psychologisches Trauma auslösen sollte. Die Anklage erwies sich schließlich als unhaltbar, und die Dichterin wurde am 17. Februar 1941 entlassen, doch dieser Fall half ihr, das Wesen des neuen Regimes ohne jegliche romantischen Illusionen zu durchschauen. (vgl. Rychlo, Peter: „Es ist so dunkel, wie dein Herz es will” – Rose Ausländer und Paul Celan in Czernowitz. In: Gans, Michael/Vogel, Harald (Hrsg.): „Immer zurück zum Pruth“: Dokumentation des Czernowitzer Symposiums‚100 Jahre Rose Ausländer. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2002, S. 75-84)

Lebenslang verheimlichte Rose Ausländer diese Episode und verriet sie niemandem. Vielleicht verpflichtete sie sich dem sowjetischen Geheimdienst gegenüber, darüber zu schweigen. Nur ihren Gedichten vertraute sie diesen Alpdruck an, ohne ihn jedenfalls biographisch oder politisch weiter zu präzisieren. Und so lesen wir unter dem Titel „Im Kerker“ aus dem Band „Ein Stück weiter“ (1979) diese fast protokollhaft fixierten und mit gedämpfter Wut geladenen Zeilen, die den paranoischen Verdächtigungswahn der neuen „Befreier“ mit einfachsten Worten bloßlegen:

Man brachte mich / ins Verlies / ich weiß nicht warum // Was sind Sie / ein Dichter ist nichts / was sind Sie in Wahrheit // In meiner Zelle / erzählte ich der jungen Frau / Märchen Gedichte / sie lernte sie leicht // Aus lehmigem Brot / machten wir Schachfiguren / spielten bis Auge / im Guckloch erschien / Spielen verboten / Lesen und Schreiben verboten // Zehn Minuten im Hof / der Himmel eine / blaue Legende / Weiß winkte die Wolke / deine Mutter wartet.

(Ausländer, Rose: Treffpunkt der Winde. Gedichte 1979. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1991, S. 22)

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