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KAPITEL

1. Palästina/Israel - ein "Exilland"?
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2. Moshe Ya'akov Ben-Gavriêl
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3. Meir Marcell Faerber
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4. Simon Kronberg
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5. Max Brod
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6. Max Zweig
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7. Leo Perutz
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8. Anna Maria Jokl
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9. Elazar Benyoëtz
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10. Anhang
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Armin A. Wallas:
"Exilland" Palästina/Israel

Max Zweig


Den bisher genannten Fallbeispielen ist gemeinsam, dass die Autoren aufgrund ihrer zionistischen Weltanschauung nach Erez Israel gelangt sind, wenngleich Zeitpunkt und Motivation der Ansiedlung in Palästina unterschiedlich waren. Anders verhielt es sich bei Max Zweig, der durch einen Zufall nach Palästina kam. Im Dezember 1938 wurde sein Drama "Die Marranen" in hebräischer Übersetzung an der Habima in Tel Aviv uraufgeführt. Dieses Stück stellt eine Parabel auf die nationalsozialistische Judenverfolgung im Spiegel der Ermordung und Vertreibung der zwangsgetauften Geheimjuden durch die Inquisition im Spanien des 15. Jahrhunderts dar. Anlässlich der Inszenierung des Dramas reiste Zweig nach Palästina, wo er von der Nachricht überrascht wurde, dass deutsche Truppen das Sudetenland besetzt hatten. Dies veranlasste ihn, nicht mehr in die von Hitler-Deutschland bedrohte Tschechoslowakei zurückzukehren, sondern in Tel Aviv zu bleiben.

"Zu meinem Erstaunen endete die Premiere, welche Ende Dezember 1938 stattfand, mit starkem, ja stürmischem Beifall. Das Publikum hatte verstanden, dass hier urjüdisches Schicksal dargestellt wurde, das Schicksal, von welchem zu gleicher Zeit die Juden in Deutschland heimgesucht wurden, welchem seit fast zweitausend Jahren die Juden in allen Ländern unter allen Völkern ausgesetzt und welches nicht mehr zu erleiden die Juden in Palästina entschlossen waren." (Zweig, Lebenserinnerungen, 1987, 151)

Zweig, Max: Lebenserinnerungen, 1987 zeigen

Der Entschluss, in Palästina zu bleiben, wurde für Zweig lebensrettend. Trotz seiner Verbundenheit mit dem Staat Israel und seiner Sympathie für das zionistische Aufbauwerk blieb Zweig ein Außenseiter des israelischen Kulturlebens, bedingt durch sein Festhalten an der deutschen Sprache. Palästina/Israel betrachtete er nicht als seine "neue Heimat", sondern als ein ?Asyl?, das ihm Schutz vor Verfolgung gewährt habe. Zeit seines Lebens fühlte er sich "verbannt" aus dem "Bereich seiner Muttersprache". Zweigs Verhältnis zu Israel ist von Ambivalenz geprägt - die Identifikation mit Israel als Zufluchtsort ist gebrochen durch sprachliche Distanz und das Bewusstsein mangelnder Zugehörigkeit.

"Wenn mein Name in einer literarischen Zeitschrift oder sonstwo genannt wird, werde ich regelmäßig unter die Exilschriftsteller eingereiht. Dagegen muss ich protestieren, obgleich ich es verstehen kann, dass diese Einordnung aus deutscher Sicht zulässig sein mag. Ich würde sehr undankbar sein, wenn ich Israel, wo ich aufgenommen, ja gefördert wurde, und wo ich unangefochten als Staatsbürger mit allen seinen Rechten und Pflichten lebe, als ein Exil bezeichnete. Freilich kann ich es auch nicht mein Vaterland nennen; das Land meines Vaters, des Vaters meines Vaters und der vorangegangenen Generationen [...] war Österreich [...]. Eine Heimat kann ich Israel nur in dem Sinne benennen, als ich jetzt hier daheim bin; [...]. Am ehesten würde die Benennung 'Asyl' zutreffen; ich habe hier ein freundliches, gastliches Asyl gefunden. Aber selbst die erlesenste Gastlichkeit und die allerherzlichste Freundschaft können den mitunter wilden Schmerz des Schriftstellers nicht lindern, der die Gewissheit besitzt, aus dem Bereich seiner Muttersprache auf ewig verbannt zu sein." (Zweig, Religion und Konfession, 1991, 59)

Dennoch arbeitete Max Zweig in seinem dramatischen Oeuvre immer wieder historische und aktuelle Stoffe auf, die direkt oder indirekt mit Geschichte und Gegenwart des jüdischen Staates in Verbindung standen. So fügen sich die Dramen "Davidia" (1939), "Saul" (1944) und "Ghetto Warschau" (1947) zu einem "Israel-Triptychon" zusammen. Am Beispiel des Kampfes um die fiktive Siedlung Davidia, die von arabischen Freischärlern angegriffen wird, verarbeitet Zweig die von dem israelischen Nationalhelden Joseph Trumpeldor geleitete Verteidigung der Kolonie Tel Chaj im Jahre 1920. Dieses Ereignis zählte in den Aufbaujahren Israels zu den wichtigsten nationalen Identifikationssymbolen. Die Dramatisierung dieses Geschehens bot Zweig Gelegenheit, seiner Sympathie für die Chaluziut, den zionistischen Pioniergeist, Ausdruck zu verleihen. Von den Chaluzim wurde das Stück begeistert aufgenommen, als es 1944 bis 1946 in hebräischer Übersetzung in mehreren Kibbuzim und Siedlungen des Landes aufgeführt wurde. Die historische Tiefendimension der israelischen Unabhängigkeit ließ Zweig in das Drama "Saul" einfließen. Biblische Urbilder präfigurieren den Kampf um die Gründung des jüdischen Staates. Dieses Drama wurde ebenfalls in hebräischer Übersetzung, an einem symbolischen Datum, der Feier zum ersten Gründungstag des Staates Israel, im Mai 1949, an der Habima uraufgeführt. Der dritte Teil des Triptychons, "Ghetto Warschau", setzt der Gwura, dem Widerstand der jüdischen Partisanen gegen die nationalsozialistische Vernichtungspolitik, ein literarisches Denkmal. Neben den Chaluzim gehören die Warschauer Ghettokämpfer zu den wichtigsten Identifikationssymbolen des jüdischen Staates. Zweigs Drama zeichnet die Abschüttelung der Jahrhunderte lang den Juden aufgezwungenen passiven Opferrolle und die Herausbildung einer neuen, kämpferischen Identität nach. Die Hauptfigur des Dramas, Simon Dannenberg, fasste Zweig als "letzten Juden", d. h. als Überlebenden der Shoah, zugleich aber als den "ersten Israeli", d. h. als den Verkünder eines neuen jüdischen Selbstbewusstseins auf. Der offene Schluss des Dramas deutet jedoch darauf hin, dass das neue Leben auf den Fragmenten des Zerstörten errichtet ist, ständig begleitet von der Erinnerung an die miterlebten Schrecken und gebrochen vom irrationalen Schuldbewusstsein der Überlebenden.


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