Biografie
Wurde als Sacharja-Chana Bergner am 27.11. 1893 in Radymno (Galizien) geboren und starb am 20.8. 1976 in Montreal (Kanada).
Vater: Efraim B. Mutter: Hinde Bergner, Verfasserin der Autobiographie „In den langen Winternächten“ (in deutscher Übers. von Armin Eidherr ersch. Salzburg 1995). Brüder: Mosche (1892 – 1921); Herz (1907 – 1970), jiddischer Novellist.
Melech Rawitsch wuchs ohne traditionelle religiöse Erziehung auf. Er wandte sich früh der Philosophie Baruch Spinozas zu. M.R. arbeitete ab 1910 als Bankangestellter – zuerst in Lemberg und dann in Wien, wo er 1912-21 lebte. Im 1. Weltkrieg diente er in der österr.-ungarischen Armee. 1921 erschien sein Gedichtband „nakete lider“ in Wien.
1921 gab er, inzwischen Vater zweier Kinder, seine berufliche Sicherheit auf und übersiedelte nach Warschau, das damals eines der Hauptzentren der jiddischen Literatur war. In Warschau bildete er zusammen mit dem überzeugten Kommunisten Perez Markisch (1952 in der SU im Zuge der stalinistischen „Säuberungen“ ermordet) und mit Uri Zvi Grinberg den harten Kern der expressionistischen Schriftstellergruppe „chaljasstre“.
1934 verließ er Polen und lebte 1936-38 in Melbourne (Australien). Nach Aufenthalten in Buenos Aires, New York und Ciudad de México kam er
1941 nach Montreal, wo er – mit Unterbrechung durch zwei Israel-Aufenthalte (1950 und 1954-56) – bis zu seinem Tode blieb.
M.R.s Sohn Yosl (Jossel) Bergner
http://www.imj.org.il/artcent/b/1435/1435.htm
http://www.brunogallery.com/Bergner/gallery.html
lebt als Maler in Tel Aviv (Israel).
Werke:
schpinosa. (Zyklisches Gedicht.) Wien 1919.
kontinentn un okeanen. (Gedichte.)
Warschau: ‚literarische bleter‘ 1937. 354 S.
di lider fun majne lider. Montreal 1954. 487 S.
doss majsseh-buch fun majn lebn. (Autobiographie.) 1. Bd.: Buenos Aires 1962. 387 S. 2. Bd.: Buenos Aires 1964. 525 S. 3. Bd.: Tel Aviv 1975. 442 S. (Deutsch: Das Geschichtenbuch meines Lebens. Übers. und ausgewählt von A. Eidherr. Salzburg: Otto Müller 1996. 235 S.)
Sekundärliteratur:
Chajim Lejb Fukss: 100 jor jidische un hebreische literatur in kanade. Montreal 1980, 264-271.
Sol Liptzin: A History of Yiddish Literature. New York 1985, 247-253.
A. Eidherr: M.R. Sein Leben – Sein Werk. In: M.R.: Das Geschichtenbuch meines Lebens. Salzburg 1996, 225-235.
Y. Bergner: What I Meant to Say. Stories and travels as told to Ruth Bondy. Tel Aviv: Hed Arzi Book Publishing 1997. 223 S.
Bibliografische Angaben:
Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser: Lexikon der österreichischen Exilliteratur. Wien 2000. S. 531f.
Armin Eidherr: Melech Rawitsch. Sein Leben – sein Werk. In: Melech Rawitsch: Das Geschichtenbuch meines Lebens. Salzburg 1996. S. 225 – 235.
Exponate
Melech Rawitsch in Warschau mit Mitgliedern der expressionistischen Dichtergruppe „di chaljasstre“, was soviel wie „die Bande“ bedeutet. Von links nach rechts: Mendl Elkin, Perez Hirschbejn, Uri Zvi Grinberg, Perez Markisch, Melech Rawitsch, Israel Joschua Singer.
Die „Chaljasstre“ war eine der innovativsten, avantgardistischsten (und auch umstrittensten) jiddischen Dichtergruppen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Den „harten Kern“ bildeten die drei Freunde Rawitsch, Markisch und Grinberg – drei völlig verschiedene Dichterpersönlichkeiten: Rawitsch war Spinozist und Weltbürger, immer um Versöhnung und Ausgleich bemüht; Markisch war Kommunist (und wurde in der SU unter Stalin ermordet); Grinberg stand politisch weit rechts und wurde nach seiner Auswanderung nach Erez Israel einer der Führer der revisionistischen Partei.
Bibliografische Angaben:
Armin Eidherr (Hg.): Jiddische Gedichte. Übertragen von Hermann Hakel. Wien 2001. S. 88 – 90 (zu Uri Zvi Grinberg) und S. 94 – 96 (zu Perez Markisch).
Cover der deutschen Auswahlausgabe von Melech Rawitsch: Das Geschichtenbuch meines Lebens, Salzburg 1996, unter Verwendung des kolorierten Holzschnittes „Melech Rawitsch in Wien“ von Audry Bergner.
Leseprobe aus Melech Rawitsch: dos mayse-bukh fun mayn lebn / Das Geschichtenbuch meines Lebens:
a) Transkription:
mit ot dem donau-kanal flegn jedn frimorgn onkumen schlep-schifn mit essn-fressn un naschn far dem frejlech-zesungenem mojl fun win. as men hot fun di brikn gesen ot di schlep-schifn untn ojfn wasser, hot ess ojssgesen wi a barg-kejt wolt dort sich pawolje bawegt – un di berg nischt fun erd, lejm un schtejn un nejert fun epl, barn, flojmen, pomidorn, ferschkess, wajntrojbn. (…) jedn frimorgn – ejder gejn zu der arbet in bank – fleg ich mich aropchapn zu di mark-hendlerss bajm breg un far a schibesch ajnkojfn a grojssn schkarmuz mit alerlej majcholim. ojch brojt hot men dort gekrogn biliker, der iker, as men hot nischt makpid gewen ojf frischkejt. gefelt hot nor abissl salz un a top hejss wasser un men hot schojn gekent iberlebn a tog kejád hamejlech.
ravitsh, melekh: dos mayse-bukh fun mayn lebn. 1908 – 1921. Buenos Aires 1964. Seite 233.
b) Übersetzung:
Auf diesem Donaukanal pflegten jeden Morgen Schleppkähne mit Essen, Fressen und Näschereien für den fröhlich-sangesfreudigen Mund Wiens anzukommen. Sah man von den Brücken diese Schleppkähne unten auf dem Wasser, sah das aus, als bewege sich dort gemächlich eine Bergkette – nur waren die Berge nicht aus Erde, Lehm und Stein, sondern aus Äpfeln, Zwetschken, Paradeisern, Pfirsichen, Weintrauben. (…) Jeden Morgen begab ich mich, bevor ich zur Arbeit in die Bank ging, zu den Markthändlern beim Ufer hinunter und kaufte für eine Bagatelle eine große Tüte mit allerhand Lebensmitteln. Auch Brot bekam man dort billiger, wichtig war nur, dass man nicht allzu pedantisch war, was die Frische betraf. Es fehlte nur ein wenig Salz und ein Topf heißen Wassers, und schon konnte man einen Tag erleben, der des Kaisers würdig gewesen wäre.
Rawitsch, Melech: Das Geschichtenbuch meines Lebens. Auswahl. Aus dem Jiddischen übersetzt und herausgegeben von Armin Eidherr. Salzburg/Wien: Otto Müller, 1996. Seite 73 f.
Melech Rawitsch
Pferde
Sie gingen zusammen achtzehn Jahr‘
und zogen schwere Lasten
und sie waren ein armes Brüderpaar –
vergessene, einsame Pferde.
Und sie standen lange achtzehn Jahre
im staubigen Stall auf dem Boden aus Stein
und Staub ist gefallen auf ihre Haare,
die den Glanz schon seit ewig verloren haben.
Und sie hatten zu leiden die achtzehn Jahr‘
unter der Peitsche, die schlug sie oft halb tot …
Und sie verdienten sich ehrlich das bisschen Stroh
zum Nachtmahl und zum Mittagsbrot.
Und standen sie einmal bei Nacht im Frei’n,
vom Regen durchnässt und von Kälte zernagt,
dann hat das ältere den traurigen Kopf
ans jüng’re geschmiegt und hustend gesagt:
“Müd bin ich, Bruder, denn schweigend geh’n
wir achtzehn Jahre schon geduldig und brav,
die Knie sind zittrig, es ist Zeit zu ruh’n –
die Augen erblinden, die Haut ist schlaff.”
Und einmal standen sie da in der Nacht
– die zwei einsamsten Pferde auf Erden –
und handelseinig ward in der Schenke ihr Herr
mit einem Vorstadt-Schlächter von Pferden.
Und er gab ihm seinen Handschlag darauf
und schätzte ihren Wert in gutem Geld –
den Wert der einsamsten, traurigsten Pferde
auf der weiten Welt.
Für den nächsten Tag bedang er sich noch aus
einen letzten Gang mit den Pferden zum Wald,
sie sollten noch einmal das Fuhrwerk zieh’n,
dann kommt der Abschied – kurz und kalt.
Sie gingen wie stets in den achtzehn Jahr’n
und über ihnen hat die Peitsche geknallt
und führten – schon für die kalte Winterzeit –
eine schwere Wagenfuhr mit Holz aus dem Wald.
Und als sie zurückgekommen waren vom Wald
– heute gab’s dann auch keine Mahlzeit mehr –
da trugen sie traurig die eigene müde Haut
zum Schlachthaus (und trugen nicht schwer).
Und als sie es rochen – allüberall das Blut,
zitterten die Beiden, von Ahnung gequält,
und schmiegten die langen Köpfe aneinand‘
und lauschten, was das Blut erzählt.
Und als man es ihnen vom Halse nahm –
das Joch von mühevollen achtzehn Jahren,
da sah man dort schwarze Haut,
wo früher einmal glänzende Haare waren.
Und als sie sich kurz darauf im Blute wälzten
auf dem Schlachthaus-Boden aus Stein,
da tönte wüst der eiserne Schlag
von Hufeisen auf dem Boden von Stein
Und erinnerte sie an ihre Schritte von einst
auf steinernen Straßen – achtzehn Jahre lang
und ihr Atem ging immer so schwer,
als sie zogen über die weite, einsame Erde –
die beiden armen Pferde.
Wien, 1919
(Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr)
Jossl Bergner: Der Optimist (Melech Rawitsch in den Kimberleys). Öl auf Leinwand, 100 x 81.
Das 1990 entstandene Bild basiert auf einem Foto, das M. Rawitsch in den Kimberleys/Australien mit Aborigines zeigt. In den Kimberleys wollte Melech Rawitsch in den dreißiger Jahren Land aufkaufen lassen und dort – die Katastrophe für die Juden durch den Nationalsozialismus vorhersehend – einen Judenstaat gründen.
Melech Rawitsch: „Auf dein unbekanntes Grab“, in: Armin Eidherr (Hg. u. Ü.): gehat hob ikh a heym / Ich hatte ein Zuhaus‘. Landeck: EYE-Verlag 1999. S. 9.
Perez Markisch, geboren 1895 in der Ukraine; hingerichtet am 12.08.1952 in der Sowjetunion, war einer der bedeutendsten jiddischen Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war Rawitschs bester Freund vor allem in den zwanziger Jahren, wo beide die Anführer der Warschauer avantgardistischen Dichtergruppe „di chaljasstre“ (= „die Bande“) waren. Markisch begann als Fünfzehnjähriger russische Gedichte zu schreiben, veröffentlichte ab 1917 in Jiddisch. Als Kommunist kehrte er 1926 in die SU zurück. 1939 bekam er den „Lenin-Orden“, 1948 wurde arretiert und vier Jahre später ermordet – am 12. August 1952, gleichzeitig mit vielen anderen jiddischen Dichtern, Kulturtätigen und Intellektuellen …
Das Gedicht schrieb Melech Rawitsch, nachdem er von der Ermordung seines Freundes erfahren hatte. Es reicht in seiner Tragik weit über den „Anlass“ hinaus und beschreibt das Schicksal der jiddischen Dichter im 20. Jahrhundert.
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Bibliografische Angaben:
Hermann Hakel: Jiddische Gedichte. Übersetzt von H. Hakel, herausgegeben von Armin Eidherr. Wien 2001. S. 94 – 96.
Exilierte jiddische Dichter aus Wien– ist Teil des Projektes „Österreichische Literatur im Exil seit 1933“ der Universität Salzburg/Institut für Germanistik; Gestaltung: Artur Bodenstein – laboratoire directe