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Melech Chmelnizki
Der Zwerg (Anfang des Poems - erster von 6 Abschnitten)

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Alles weißer Marmor, ganz aus kaltem Stein:
Erde, Gras und Bäume, Wälder in der Ferne.
Tot der weiße Himmel, leer und ohne Sonne,
Und die Zeit blieb auch versteinert stehen.
Ausgestreckt und starr, die Hände ausgebreitet,
Wie auf einem Kreuze lieg' ich auf dem Stein -
's beugt sich über mich ein buckeliger Zwerg,
Fletscht beim Grinsen große pferdehafte Zähne.
Ständig starrt er mit den bitter glupschen Augen,
Grapscht herum mit kalten, langen Spinnenfingern,
Beugt sich nieder, raunt ins Ohr mir ein Geheimnis:
Gleich wird's leichter werden, gleich wird's leichter werden.
Nimmt die Axt aus Marmor, hackt mir eine Hand ab:
Es tut mir nicht weh, und es fließt kein Blut -
Stumm und ohne Staunen bliche ich den Zwerg an.
Wieder nimmt die Axt er, hackt in einem fort,
Hackt und hackt und hackt mir einzeln jedes Glied ab,
Hackt und hackt und hackt Stück für Stück von mir.
Bis zum Hals und Nacken, bis ganz an den Kopf.
Es tut mir nicht weh, ich höre keinen Schlag -
Stumm und ohne Schrecken blicke ich den Zwerg an.
Sieh! Jetzt legt der Zwerg schon die Axt beiseite,
Streckt zwei Finger aus, packt mich an dem Schopf,
Stellt mich auf den Boden, stellt mich auf den Hals,
Setzt sich selbst zu Boden, würdig wie ein Türke,
glotzt mich an mit weit-weit aufgeriss'nen Augen,
Sagt zu mir gelangweilt: Tanz jetzt, Kopfmensch, tanz!
Auf dem Marmor tanz' ich mit dem bloßen Kopf,
Wie ein Fröschlein hüpf' ich: Hopp - hopp - hopp.
Schwerfällig und plump, rhythmisch abgehackt
Spring' ich, mache halt - und beginn erneut.
Und es freut der Zwerg sich, klatscht und zählt im Takt:
Eins - zwei - drei! Eins - zwei - drei!

Diese erste Übersetzung dieses Kleinepos findet sich in: Literatur und Kritik. Nr. 273/274, April 1993. Salzburg 1993. S. 68 - 75.

Das Poem ist durch und durch von psychoanalyischer Symbolik erfüllt. Der Ich-Erzähler und der Zwerg, nachdem dieser den Zerstückelten wieder zusammengesetzt hat, durchwandern eine Art Seelenlandschaft, in welcher sie - meist vom Zwerg veranlasste - grauenhafte Dinge erleben. Als der Zwerg am Schluss Dinge vom Erzähler verlangt, die eine Überschreitung der fundamentalsten moralischen Grenzen bedeuten würden, erwürgt ihn dieser "und mit hartem Absatz trat ich seine Augen aus / Und zertrampelte den Körper stumm, mit wildem Zorn - / Dann beweinte ich den langen, langen Wahnsinn still."

Bibliografische Quelle:
M.Chmelnizki: "Der Zwerg". In: Armin Eidherr: Auf stillem Pfad ... Jiddische Schriftsteller in Wien. Dossier jiddische Literatur. In: Literatur & Kritik, Nr. 273/4, Salzburg 1993. S. 68 - 75; Zeichnung von B. Kopman aus: melech chmelnizki: ru un umru. New York 1948. S. 97.

Copyright/Übersetzung: Armin Eidherr



–Exilierte jiddische Dichter aus Wien– ist Teil des Projektes „Österreichische Literatur im Exil seit 1933“ der Universität Salzburg/Institut für Germanistik; Gestaltung: Artur Bodenstein – laboratoire directe