Exil Überblicke 06.) Sprachreflexion – Sprachwechsel im Exil

Exil und Sprache

„[…] ein Problem, mit dem sämtliche Auswanderer sich auseinanderzusetzen hatten, das aber für mich und meine Berufsgenossen von zentraler Bedeutung war. Es geht um die Sprache, vielmehr um deren Verlust. Jeder, der die Heimat verließ, hatte diese Barriere zu überwinden […] Denn wenn es auch im Bereich der Möglichkeit schien, ein anderes Idiom, in diesem Fall das englische, eines Tages hinreichend zu beherrschen: würde jene Einzigartigkeit, jene Unverwechselbarkeit, die man als raison d’être der eigenen Kunstausübung ansah, darauf übertragbar sein?“

Spiel, Psychologie, 1975, 433

O-Ton Benno Weisser-Varon (* 1913) Aus der Sendung: Exil in Südamerika („Dimensionen“ 29. 2. 2000, ORF, Ö1). Dauer: 0:15 min.

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„Die Sprache lern ich nicht,/um zu gestalten;/es ist für mich genug, sie zu verstehn,/des fremden Landes Sitten einzuhalten./Es drängt mich nicht, in ihnen aufzugehen.“

Theodor Kramer, Es mögen andere eine Heimat suchen ..., 1941

„Das Vergnügen, englisch zu schreiben. Experimentieren mit dem fremden Idiom […] Rilkes Freude an seinen französischen Versen.“

Klaus Mann, Tagebuch, 6.7. 1939

Ausgehend von der Akzeptanz der besonderen Schwierigkeit für eine(n) Schriftsteller(in), sein primäres Werkzeug, die Sprache, auf die Bedingungen des Exils hin anzupassen, d. h. beizubehalten oder zu wechseln, haben sich diesem Problem nahezu alle exilierten Schriftsteller mit unterschiedlichen generellen bzw. auf das eigene Schaffen bezogenen Perspektiven gestellt. Allen war die paradoxe Situation bewusst: in fremdsprachiger Umgebung in der Sprache des „Feindes“ – zugleich der eigenen Muttersprache – zu arbeiten, zu wirken. Aber darin lag auch für viele der Antrieb, ihre Muttersprache gegen die feindliche Okkupation durch die Nazis und ihren anmaßend zerstörerischen Sprachgebrauch zu behaupten.

Bereits 1939 hielt Ernst Bloch in New York vor dem „Schutzverband Deutscher Schriftsteller“ einen viel beachteten Vortrag mit dem Titel „Zerstörte Sprache – zerstörte Kultur“, in dem er, eingebettet in die geistesgeschichtlichen Traditionen und Differenzen zwischen Amerika und Europa, im besonderen Deutschlands, Möglichkeiten der – auch sprachlichen – Integration und deren Grenzen zur Diskussion stellte. Bloch plädierte dabei unmissverständlich für die Beibehaltung der Ausgangssprache und Kultur, erklärte sich gegen den Sprachwechsel, weil er in ihm die Gefahr der Preisgabe, ja sogar die Zerstörung von Kultur erblickte:

„[…] wie können wir politisch kulturell unsere Aufgabe erfüllen? Man kann Sprache nicht zerstören, ohne in sich selber Kultur zu zerstören. Und umgekehrt, man kann eine Kultur nicht erhalten und fortentwickeln, ohne in der Sprache zu sprechen, worin diese Kultur gebildet ist und lebt.“

Bloch, Zerstörte Sprache/Politische Messungen, 1939/1970, 277

Während Hilde Spiel und Klaus Mann den Sprachwechsel als grundsätzlich möglich, wenn auch riskant erachteten und ihn für das eigene Schaffen seit 1939/40 auch realisierten, erblickte die Mehrzahl, vor allem der bereits als Schriftsteller gefestigten Exilanten, ihre Aufgabe vielmehr darin, der deutschen Sprache „treuer als der Freundschaft“ (Berthold Viertel: Die deutsche Sprache. In: Das graue Tuch, 177) verbunden zu bleiben, sie gegen Schändung und Verrat in Schutz zu nehmen und dafür Trost zu erhalten. Die Zuwendung zu „traditionalistischen“ Formen (historisches Drama, historischer Roman, Ballade, Sonett) ist aus diesem sprachpolitischen und sprachreflexiven Kontext heraus zu sehen und zu begreifen (Ernst Waldinger: Die Heilkraft der Sonette. In: Ich kann mit meinem Menschenbruder sprechen 1965, 104)

Vergleichen Sie dazu auch unsere Porträtvorlesung zu Berthold Viertel.

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Titel: Waldinger, Ernst
Quelle: Bolbecher, Siglinde/Kaiser, Konstantin: Lexikon der österreichischen Exilliteratur, Wien: Deuticke, 2000, S. 665, DÖW 3589/2, Neg. 451. Mit freundlicher Genehmigung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW)
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Titel: Waldinger, Ernst: Die Heilkraft der Sonette
Quelle: Waldinger, Ernst: Noch vor dem jüngsten Tag. Ausgewählte Gedichte und Essays. Hg. und mit einem Nachwort von Karl-Markus Gauß. Salzburg. Otto Müller Verlag 1990, S. 104. Mit freundlicher Genehmigung des Otto Müller Verlags, Salzburg
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Titel: Waldinger, Ernst: Noch vor dem jüngsten Tag
Buchcover von Waldinger, Ernst: Noch vor dem jüngsten Tag. Ausgewählte Gedichte und Essays. Hg. und mit einem Nachwort von Karl-Markus Gauß. Salzburg. Otto Müller Verlag 1990
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Exil und Sprachwechsel waren natürlich auch eine Generationsfrage. Unter den vor 1900 geborenen Autor/inn/en, die zum Exil gezwungen waren, versuchten sich nur wenige in der Sprache des Gastlandes, z. B. Hans Flesch-Brunningen (1895-1981), dessen „Untimely Ulysses“ (1940) im „Times Literary Supplement“ als „most intriguing and frightening book“ charakterisiert und trotz geringer Konzessionen an die englischen Lesererwartungen im Juli 1940 als „first choice“ unter den Neuerscheinungen genannt wurde (Dove, 1996, 99). Sehr erfolgreich war Robert Neumann (1897-1975): Dessen zuerst auf Englisch erschienener (aber ursprünglich noch auf Deutsch verfasster) Roman „By the waters of Babylon“ (1939) war ein internationaler Erfolg. Die darauffolgenden Romane „Scene in Passing“ (1942) und vor allem „The Inquest“ (1944), die thematisch wie sprachlich „the experience of exile and the related crisis of identity“ ausloten und gestalten (Dove,1995, 113), markierten gar den Übergang vom deutschsprachigen zum erfolgreichen, ins Deutsche rückübersetzten Autor:

„The Inquest marks Neumann’s final transition from successful German author to successful English author whose works were translated into German.“

Dove, 1995, 113

Für die jüngeren Autor/inn/en stellte sich die Frage z. T. unter anderen Aspekten, überschnitt sich in manchen Fällen der Gang ins Exil doch mit der Entscheidung, schriftstellerisch tätig zu werden. Bei Arthur Koestler (1905-1983) haben wir es mit einem solchen Fall zu tun. Sein 1937 erschienenes Gefängnistagebuch „A Spanish Testament“ markierte zugleich die Abkehr vom vorwiegend journalistischen Schreiben hin zur ernsthaften Literatur und begründete seinen Weltruf als Autor.

Jean Améry wiederum überlegte, ins Französische zu flüchten, und führte dafür sprach-politische Motivationen an: „daß du das Französische usurpiertest, weil man das Deutsch dir gestohlen hatte und weil Frankreich in seiner Holdheit […] dir als der dialektische Widerspruch erschien zu dem Koloß östlich des Rheins“ (Jean Améry, Unmeisterliche Wanderjahre, 65). Sprache und Identität wurden ihm fortan zu einem existentiellen Thema, zu einer Erfahrung, die den Schriftsteller „zugleich reicher und ärmer macht“ (Jean Améry, Leben zwischen den Sprachen, 1976, 37). Die mehrsprachige Signatur einiger seiner Texte ist dadurch bestimmt, dass einerseits die „Assoziationshöfe der Wörter […] nicht in allen Sprachen die gleichen sind“ und die Kehrseite der polyglotten Faszination die Gefahr des Absturzes in ein „mir höchst widerwärtiges ‚Emigrantowatsch'“ mit sich führt. (Jean Améry, 1976, 37) Noch in einem seiner letzten Briefe umkreiste er die Frage, warum er sich 1945 nicht entschlossen hatte, „ein französischer Schriftsteller zu werden.“ (G. Lindemann, Versuch, 1981, 9).

Die Entscheidungen waren also in jedem einzelnen Fall von spezifischen Faktoren und z. T. auch von Zufällen abhängig. Eine generelle Linie lässt sich nicht feststellen, selbst bei Generationsgenossen wie Erich Fried, der wohl die Sprachkompetenz gehabt hätte und sie für das Übersetzen Shakespeares auch nutzte, aber für die eigene Lyrik das Deutsche wählte, oder Michael Hamburger, Frederick Morton (Fritz Mandelbaum) oder Georges Arthur Goldschmidt. Zweifellos waren jene Schriftsteller/innen im „Vorteil“ (soweit man dies behaupten kann), die entweder aus einer mehrsprachigen Umgebung (Prag, Budapest, Czernowitz z. B.) kamen oder die sich zuvor bereits übersetzerisch betätigt haben wie z. B. Mimi Grossberg oder auch Stefan Zweig.

Aufschlussreich für die komplexe Problemlage ist z. B. das von Arthur Goldschmidt auf Deutsch verfasste Nachwort zur Erzählung „Un jardin en Allemagne“ (1986)/“Ein Garten in Deutschland“ für die deutsche Ausgabe 1988:

„Eine Erzählung wie ‚Ein Garten in Deutschland‘ hätte in der Muttersprache (das Deutsche) wegen der erlebten Vergangenheit und der Erfahrung der Trennung nicht so entstehen können, wie sie eben im Französischen entstanden ist, ja sie wäre wahrscheinlich gar nicht entstanden. Erst die Übertragung (diesmal im Freudschen Sinn des Wortes) in eine Sprache, in welcher die Erinnerung alles erfinden mußte, ohne es erlebt zu haben, machte das Schreiben an diesem Buch möglich.“

Goldschmidt, Garten, Nachwort, 1991, 184

Sprachwechsel - Übersicht

Wie bereits erwähnt, war der definitive Sprachwechsel die Ausnahme und wurde meist von jüngeren Schriftsteller/inn/en gewählt, die z. T. erst im Exil bzw. nach 1945 zu publizieren begannen. In der Regel war der Sprachwechsel ein temporäres Phänomen, eine Eintrittskarte in die Sprach-Kultur des Exil-Gastlandes mit der Option auf spätere Rückkehr.

Besonders deutlich tritt dies im englischsprachigen Exil zu Tage. Zum einen setzt bereits früh, ab 1936/37, eine Produktion bzw. Veröffentlichung in englischer Sprache durch die Exilant/inn/en ein, die auch in der Öffentlichkeit, z. B. in Zeitschriften wie „Times Literary Supplement“ und „The New Statesman“, auf Resonanz gestoßen ist (Strickhausen, 1992,369 f.).

Überwogen zunächst historisch-politische Studien (z. B. von Reinhold Aris, Franz Borkenau, Julius Braunthal u. a.), so mehren sich ab 1939/40 literarische Texte (manche freilich aus dem Deutschen übersetzt), die entweder Beachtung finden wie Peter de Mendelsohns „Across the Dark River“ (1939), Robert Neumanns und Arthur Koestlers Romane oder zumindest wahrgenommen wurden wie z. B. die Romane Anna Sebastians. Zum anderen kehren einige Autor/inn/en, die zunächst Fuß fassen können, in den 50er oder 60er Jahren ins Deutsche zurück, wie der genannte Robert Neumann, Hans Flesch-Brunningen oder Hilde Spiel. Neumanns Überlegung in einem Werkstattgespräch mit Horst Bienek, wonach „man [ ] eine fremde Sprache nur schreiben [kann], wenn man in ihr lebt“ (Dove, 1996, 114), war für das Phänomen der „Sprachrückkehr“ – Robert Neumann übersiedelte 1959 in die Schweiz, Hans Flesch-Brunningen, bis 1958 immerhin BBC-Sprecher, kehrte nach Wien zurück – gewiss ein entscheidender Punkt. Insgesamt lässt sich immerhin ein Spektrum von über 200 Texten wissenschaftlicher, publizistischer und literarischer Natur ausmachen.

Nicht selten haben Schriftsteller/innen jedoch ein Nebeneinander von Muttersprache und Sprache des Exillandes – meist das Englische – bevorzugt bzw. die Zweitsprache für eine andere Form kultureller Vermittlung und Produktion genützt: die literarische Übersetzung oder das Verfassen von Film-Drehbüchern wie z. B. Lajos Biró, Lászlo Fodor, Gina Kaus oder Salka Viertel.

Im Folgenden finden Sie eine (unvollständige) Liste von Autor/inn/en (österr. Herkunft bzw. aus dem ehemaligen Österreich-Ungarn), die wenigstens zeitweise die Sprache gewechselt haben:

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Titel: Blum, Klara in Palästina
Quelle: Mimi Grossberg (1905-1997). Eine österreichische Exilautorin in New York. Begleitbuch zur Ausstellung der Österreichischen Exilbibliothek im Literaturhaus Wien von Christian Klösch. Zirkular Sondernummer 54/1999, S. 7. Nachlass Mimi Grossberg - Österreichische Exilbibliothek, Literaturhaus Wien. Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Ursula Seeber, Österreichische Exilbibliothek, Wien.
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Die Schriftstellerin Klara Blum (1904, Czernowitz – 1971, Guangzhou) war eine der wenigen aus der Exilant/inn/enkolonie von Shanghai, die auch nach 1945 in China geblieben sind und sich in die chinesische Gesellschaft integriert haben. Ab 1952 war sie Professorin für deutsche Sprache und Literatur an den Universitäten Fudan, Nanjing und Guangzhou; 1959 wurde sie Mitglied des Chinesischen Schriftstellerverbandes (Z. Yang, 1996, 48 ff.). In ihrem in China entstandenen Texten rücken denn auch chinesische Themen und Schauplätze in den Vordergrund. Sie hat damit eine grundlegende Überlegung Lion Feuchtwangers über die Arbeitsprobleme des Schriftstellers im Exil zur Basis ihres weiteren Schaffens gemacht: „Das neue Land, in dem wir leben, beeinflußt die Wahl unserer Stoffe, beeinflußt die Form. Die äußere Landschaft des Dichters verändert seine innere.“ (Feuchtwanger, Arbeitsprobleme, 1943, 27 bzw. Loewy, Exil, 1982, 678)

Ihr Roman „Der Hirte und die Weberin“ (1951) sowie der Novellenband „Das Lied von Hongkong“ (1959) setzen sich intensiv mit den Wendepunkten und Umbrüchen der neuesten chinesischen Geschichte, einschließlich der kulturellen Kontraste zur kolonialistisch präsenten europäischen Welt, auseinander. Wenngleich Blum ihre Schreib-Sprache nicht wechselte, suchte sie doch eine Annäherung an die chinesische Sprache und Kultur, an deren spezifische Ausdruckswelt und mythisch-figurative Tradition. So setzt z. B. der Roman mit einem chinesischen Satz ein und bezieht auch „typisch“ chinesische Redeweisen und Formen wie Volkslegenden, Märchen oder die Lyrik in den Romantext ein (Yang, 1996, 189f.). Nachdichtungen aus dem Chinesischen (wie aus anderen Sprachen übrigens auch) ergänzen diese sprach-kulturelle Bewegung und Vermittlungsleistung.

Freilich gibt es auch das umgekehrte Phänomen: die Entscheidung im Exil bzw. im Gastland zu bleiben, im literarischen Werk jedoch nicht von der Muttersprache loszukommen, die Sprache des Gastlandes auch nach Jahrzehnten nicht als die eigentliche empfinden zu können, wie dies z. B. bei Stella Rotenberg der Fall ist: „Wir sprechen die Sprachen die nicht unser sind …/Wir haben keine Heimat“ (Stella Rotenberg, Scherben, 1991, 30), oder bei Ernst Waldinger trotz seiner Lehrtätigkeit in den USA.

Vergleichen Sie dazu auch unsere Porträtvorlesung zu Stella Rotenberg.

Und schließlich ist noch auf Positionen hinzuweisen, wie sie Elias Canetti vertreten hat, als er für sich die Frage des Exils und der Sprache trotz mehrfachen Sprach- und Kulturwechsels – von der spaniolitischen Kindheitssprache ins Englische und anschließend erst ins Deutsche, dem er dann trotz jahrzehntelangem Lebensmittelpunkt in London verbunden blieb -, jener einer typologisch verstandenen modernen Autor-Erfahrung (des Kulturwechsels) nachgeordnet sah:

„es scheint mir ein wesentliches Zeichen der modernen Literatur überhaupt, daß Autoren in ganz anderen Ländern leben als denen, in denen sie aufgewachsen sind […] Immer mehr Autoren brauchen diese Entfernung von ihrer eigentlichen Substanz.“

Durzak, 1976, 101

Fallbeispiele

Erich Fried (1921-1988)

Obwohl Erich Fried in einem seiner späten Interviews gemeint hatte, er könne „nicht wirklich englisch schreiben“ (Fried/Schlund, 1994, 77), hat er seine erste größere Prosapublikation 1944, eine etwa 20seitige Broschüre über österreichische Widerstandskämpfer, eine Auftragsarbeit für das „Austrian Centre“, auf Englisch abgefasst: „They fight in the Dark. The story of Austrias Youth“ (Neuausgabe 1995). Es handelt sich dabei um eine Mischform aus Bericht und Erzählung, in deren Mittelpunkt die Widerstandstätigkeiten (Herstellung und Verteilung von Flugblättern, konspirative Treffen, Verbergen von gefährdeten, von der SS gesuchten Freunden, Vorbereitungen für Sabotageakte) von jungen Österreicher/inn/en (Franz, Karl, Hanni, Elli) stehen, und zwar mit betont optimistischer Perspektive hin auf ein besseres, freies Österreich.

„‚We’ll have a beautiful Austria,‘ said Elli quietly. She thought of the future of Freedom, of international friendship of the nations. It was late at night, long past midnight. In a few hours it would be day …“

Fight, 164

Frieds erster Gedichtband „Deutschland“ (London, Austrian PEN, 1944) der etwa zeitgleich entsteht, verzichtet hingegen bewusst auf die Möglichkeit eines experimentellen Ausflugs in die Sprache des Gastlandes. Erst viel später wird Fried gelegentlich Gedichte auf Englisch schreiben, um sie allerdings nur auf Deutsch zu veröffentlichen. (Fried/Schlund, 1994, 79)

Vergleichen Sie dazu auch unsere Überblicksvorlesung „Das Austrian Centre und sein Umfeld“.

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Titel: Fried, Erich: Erich Fried im Londoner Exil
126, Westbourne Terrace. Erich Fried im Londoner Exil (1938-1945). Texte und Materialien. Hg. von Volker Kaukoreit und Jörg Thunecke unter Mitarbeit von Beate Hareter. Wien: Turia + Kant 2001, Buch-Cover
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Frieds Arbeit in der BBC sowie seine Begegnung mit der englischen Literatur hatten zwar keine aktive literarische Mehrsprachigkeit zur Folge, immerhin aber eine bedeutende Leistung, die ein Leben in zwei Sprach-Kulturen geradezu voraussetzt: die Neuübersetzung Shakespeares seit Mitte der 60er Jahre, insgesamt 27 Stücke, die im Umfeld der nicht wenigen und prominenten (literarischen) Shakespeareübertragungen im 19. und 20. Jahrhundert (z. B. Georg Herwegh, Friedrich Bodenstedt, Friedrich Gundolf, Rudolf A. Schroeder, Karl Kraus, Ludwig Tieck) einen herausragenden Platz einnehmen, ja als Musterübersetzungen gelten, indem sie Sprachstil und Originaltreue, aber auch nötige Modernisierungen in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander rücken. (Vgl. F. Apel, 1989, 28) Neben William Shakespeare hat Erich Fried auch Thomas Dylan übersetzt.

Einen vorübergehenden Sprachwechsel vom Deutschen ins Englische unternahm hingegen Rose Ausländer in den Jahren ihres zweiten New-York-Aufenthaltes (1946-1957). Entgegen kam ihr dabei zweifellos die polyphone Kindheit und Jugend in Czernowitz (bis 1921) sowie ihr erster Amerika-Lebensabschnitt (1921-1931), dem wir einen beeindruckenden New-York-Zyklus (1927) verdanken. Die Sprach-Landschaft der Bukowina hat Ausländer in einem Gedicht nicht von ungefähr in die Verse „viersprachig verbrüderte/Lieder/in entzweiter Zeit“ (Bukowina II, GW, 4,72) gefasst. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema des Sprachwechsels selbst bleibt in den rund 20 englischen Gedichten freilich ausgespart; sie ist im Ansatz nur in Briefen mit amerikanischen Schriftstellerinnen anzutreffen, vor allem mit Marianne Moore, die sie allerdings motivierte, ins Deutsche zurückzukehren (vgl. Helfrich, R. Ausländer, 226 f.).

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Titel: Ausländer, Rose (1964)
Quelle: Mimi Grossberg (1905-1997). Eine österreichische Exilautorin in New York. Begleitbuch zur Ausstellung der Österreichischen Exilbibliothek im Literaturhaus Wien von Christian Klösch. Zirkular Sondernummer 54/1999, S. 34. Nachlass Mimi Grossberg - Österreichische Exilbibliothek, Literaturhaus. Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Ursula Seeber, Österreichische Exilbibliothek, Wien.
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Wie in ihrer deutschsprachigen Lyrik bildet auch in den meisten der englischen Gedichte die Frage nach einem möglichen Aufbruch, die Frage der existentiellen Orientierung eingedenk der Erfahrung der Vernichtung, eines allgegenwärtigen Todes, eines der zentralen Motive und Anliegen. Das Programm-Gedicht „Where shall we start“ führt dies in seiner ersten Strophe deutlich vor.

Where shall we start?

Death in our hand, life in our heart – Where do we end? Where do we start?

Rose Ausländer, GW 1, 321

Mimi Grossberg (1905-1997)

Für Grossberg stellte der Sprachwechsel im Zuge ihrer Flucht 1938 nach New York zumindest auf linguistischer Ebene kein allzu großes Problem dar, betätigte sie sich ja bereits in Wien seit Mitte der 20er Jahre, motiviert durch ihre Freundschaft mit Klara Blum, als Übersetzerin aus dem Englischen, bevor sie 1935 ihren ersten Gedichtband „Der Weg zu dir“ veröffentlichte. Es wundert daher nicht, dass sie auch ihr Exiltagebuch ab etwa 1942 zunehmend auf Englisch verfasste, obwohl sie das Deutsche nie aufzugeben gedachte und für ihr veröffentlichtes Werk – meist in Zeitschriften – beibehielt. Diese doppelte Bindung an zwei Sprachen wird Grossbergs Leben und Schaffen weiterhin kennzeichnen; ihre zentrale Rolle in der Redaktion der wichtigen Exilzeitschrift „Der Aufbau“ dokumentiert dies.

Parallel zum englisch verfassten Tagebuch entstehen um 1941/42 die ersten Gedichte in englischer Sprache, die bislang weitgehend unveröffentlicht sind, im Nachlass aber, zusammen mit zahlreichen anderen Texten, einen beachtlichen Bestand ausmachen. Dazu gehört z. B. das Gedicht „When the facts about Auschwitz came through“ (1942), das nicht nur sprachlich und formal überzeugt, sondern zu den frühesten Zeugnissen des Wissens um die Verbrechen und der moralischen Belastung angesichts der eigenen Ohnmächtigkeit und des Überlebens vor dem Hintergrund des Massenmordes zählt. Ohne Pathos, ohne ornamentale oder metaphernreiche lyrische Bilder gelingt es der Autorin in einer lakonischen Gegenüberstellung der „Wir/Überlebenden“- und „Sie/Umgekommenen“-Sphäre unter Verwendung sparsamer formaler Mittel (Tempuswechsel, karge Syntax, Adverblosigkeit, Feststellungen vs. Fragen) das Unfassbare in Sprache zu fassen, die Notwendigkeit einer Konfrontation mit ihm zu skizzieren.

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Titel: Grossberg, Mimi
Quelle: Mimi Grossberg (1905-1997). Eine österreichische Exilautorin in New York. Begleitbuch zur Ausstellung der Österreichischen Exilbibliothek im Literaturhaus Wien von Christian Klösch. Zirkular Sondernummer 54/1999 (Cover). Mit freundlicher Genehmigung von Alisa Douer.
MalerIn/FotografIn: © Alisa Douer (1992)
When the facts about Auschwitz came through
Our parents where sent there! Their quotas came too late …
Now we sit in New York And we sleep in a bed And we are the strangest beings.
We live just like other people do. We work, we laugh – We go to movies. We have nice living rooms – Music and books And friends, yes, friends we have too. […]
that’s the „if“ and the „how“ – were they gased? How long did they suffer?? Don’t talk – I got mad – How can this – how can this be true??? […]

Mimi Grossberg, Zirkular 54/1999, 25

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Titel: Grossberg, Mimi: Geschichte im Gedicht
Mimi Grossberg (Hg.): Geschichte im Gedicht. Das politische Gedicht der austro-amerikanischen Exilautoren des Schicksalsjahres 1938. 3. Aufl., Austrian Cultural Institute New York, Ariadne Press 1993, Cover.
MalerIn/FotografIn: unbekannt

In den ersten Jahren nach 1945 wurde Mimi Grossberg auch in der Freizeitgruppe des „Aufbau“ aktiv und widmete sich verstärkt gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten. Aus diesen erwuchs z. B. 1949 eine Theatergruppe, die einen Sketch – „The Refugeria“ – von Norbert Grossberg, Mimis Mann, unter ihrer Mitwirkung erfolgreich aufführte. Bei einem Leseabend der Gruppe ergab sich die Begegnung mit Rose Ausländer, die ebendort ihre erste halb-öffentliche Lesung von englischen und deutschen Gedichten hatte.

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Titel: Grossberg, Heller, Ausländer, Ettisch
"New Talents": Norbert und Mimi Grossberg, Fred Heller, Rose Ausländer und Bill Ettisch nach einer Lesung im Clubhouse 610 West 164 Street in New York (1949). Quelle: Mimi Grossberg (1905-1997). Eine österreichische Exilautorin in New York. Begleitbuch zur Ausstellung der Österreichischen Exilbibliothek im Literaturhaus Wien von Christian Klösch. Zirkular Sondernummer 54/1999, S. 35. Nachlass Mimi Grossberg - Österreichische Exilbibliothek, Literaturhaus Wien. Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Ursula Seeber, Österreichische Exilbibliothek, Wien.
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Felix Pollak (1909-1987)

Der international vorwiegend mit seinem Anti-Vietnam-Gedicht „Speaking: The Hero“ bekannt gewordene Lyriker, Essayist und Übersetzer zählt zu den wenigen, aber faszinierenden Fällen lebenslänglich praktizierter „Doppelsprachigkeit“ (R. Grimm). Im Dezember 1938 in den USA angekommen, zuerst in New York, dann bei der US-Armee als Übersetzer bis 1946 und ab 1959 in Madison als Kustos an der University of Wisconsin tätig, lebte Pollak abseits des literarischen Betriebs, unterhielt aber dennoch einige wichtige Freundschaften (Anais Nin, Henry Miller, Hans Magnus Enzensberger, R. Grimm), die ihm über sein Exilantendasein ein wenig hinweghalfen. Der Großteil seiner fast nur auf Englisch verfassten Gedichte erschien zwar sehr spät, d. h. in Buchform erst in den 70er- und 80er Jahren; ihre Entstehung reicht aber oft in die 50er Jahre zurück, wie die Korrespondenz mit Anais Nin (1952-1976) belegt. Im Nachlass fand sich weiters ein Aphorismen-Bestand auf Deutsch, der in die 30er Jahre zurückreicht und gemeinsam mit englischen im Band „Lebenszeichen“ posthum veröffentlicht wurde. Hinzu tritt noch seine Vermittlungs- und Übersetzungsleistung vom Deutschen ins Englische (Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Frank Wedekind, Robert Musil, Karl Krolow), die Felix Pollak als einen wichtigen, vielfach unterschätzten Dichter zwischen den Sprachen und zugleich als einen singulären Exilanten ausweisen.

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Titel: Pollak, Felix: Vom Nutzen des Zweifels
Felix Pollak: Vom Nutzen des Zweifels. Gedichte.Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1989, Cover.
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Pollaks Lyrik entstand also vorwiegend auf Englisch und zeichnet sich durch eine stupende Beherrschung von Form und Sprache aus. Finden sich in den frühen Bänden wie „The Castle and the Flaw“ (1963) oder „Say When“ (1969) noch überwiegend „kunstvoll verschlungene […] Reimstrukturen und Strophengebilde“ (Grimm, 1988, 212), so bevorzugte er in den späteren die schlankeren, bündigeren, prosaischeren Sprechgedichte, die an Erich Fried erinnern. Aber auch im frühen Werk stehen bereits reimlose und gereimte Kompositionen nebeneinander, z. B. in den Gedichten „Ad Poetam“ (1955) und „Discussing Poetry/Über Lyrik“ (1958). In den von Pollak angefertigten Übersetzungen seiner eigenen Gedichte kommt seine Sprachpräzision nochmals zum Ausdruck: in maximaler Korrespondenz und gleichzeitig poetischer Eigenständigkeit. So z. B. im Gedicht „Refugee“, in dem die im Englischen auch visuell sichtbare Fokussierung und sprachliche Bewegung auf die beiden Schlussverse hin im Deutschen zwar nachvollzogen, aber doch mit geringfügigen Akzentuierungen gestaltet werden.

He was born in Vienna he died in Auschwitz he is living in New York
He still believes all men are brothers under the skin
but he knows also they’ll any day skill each other alive
so they may be brothers

Felix Pollak, Vom Nutzen des Zweifels, 54

Ähnlich präzise und ebenfalls eine Grunderfahrung des Exils ins Zentrum rückend- jene des Schmerzes über die „abgeschnittenen Wurzeln“- gestaltet Pollak sein Wien-Gedicht „Vienna 1967″/“Wien 1967“ in seinen beiden Sprachen:

Though my roots are cut off here, they hurt like an old scar when it rains.
Obwohl meine Wurzeln hier abgeschnitten sind, schmerzen sie wie eine alte Narbe wenn’s regnet.

Felix Pollak, Vom Nutzen des Zweifels, 114-115

Die stupende Zweisprachigkeit kommt auch im aphoristischen Werk Pollaks, das zwischen 1930, also noch in Wien, und Ende der 50er Jahre in den USA entstand. Es geht dabei immerhin um ein Korpus von fast 500 auf Deutsch und 219 auf Englisch verfassten Texten, an denen Pollak jahrzehntelang in beiden Sprachen gefeilt hat, getreu seinem dort formulierten Grundsatz: „The knowledge of any language begins with the discovery that there is not such thing as synonyms.“ bzw. „Die Kenntnis jeglicher Sprache beginnt mit der Erkenntnis, daß es keine Synonyme gibt.“ (Felix Pollak, 1992,134 bzw. 13)

Alfredo Bauer (geb. 1924)

Der aus Wien gebürtige Alfredo Bauer kam 1939 mit seinen Eltern in Argentinien an, wo er sich bereits ab 1941 in linksorientierten Exilvereinigungen (Jugendklub Blau-Weiß, Frei-Österreich-Bewegung/Comité Austria Libre, Kommunistischer Jugendverband) engagiert, ab 1944 Chor-Stücke („Die Antwort“ bzw. „Wie es kam“) verfasst und 1949 sein Medizinstudium abschließt, um dann als Kinderarzt und Gynäkologe in verschiedenen Spitälern zu arbeiten. Um 1960 begann er sich stärker dem Schreiben zu widmen, spät, wie er selbst feststellt und auch psychoanalytisch motiviert: „dass dies mit dem Tod meines Vaters und der Geburt meines letzten Kindes zu tun hat“ (Brief, 18.9. 2001). Seine sprachliche Situation war im Zuge der beruflich-familiären Integration in Buenos Aires die der sich ausbildenden Zweisprachigkeit. Neben kleineren Beiträgen für das „Argentinische Tageblatt“ legte er 1971 eine heftig diskutierte „Historia critica de los judiós“ vor und begann an einer ausgreifenden Familien-Saga in fünf Bänden auf Spanisch zu arbeiten, die ab 1976, als der erste Band unter dem Titel „La esperanza trunca“ (dt. 1985: „Verlorene Hoffnung“) erschien, seinen Ruf als Schriftsteller begründete. Die Wahl des Spanischen ergab sich dabei aus mehreren Überlegungen, aus sprachlichen wie politischen. Zum einen war „um diese Zeit meine Kenntnis des […] Spanischen schon grosz genug, um kein Hindernis darzustellen“ (Brief, 18.9.2001), zum anderen verstand Bauer diese seine Arbeit als einen „argentinisch-patriotische[n] Beitrag eines Einwanderers“ (Brief, 6.10. 2001), also als eine Reverenbezeugung vor seinem Gastland, vor seiner neuen Heimat.

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Titel: Bauer, Alfredo: El falso auge (Buchcover)
Quelle: Alfredo Bauer: El falso auge (Buchcover)
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Die erwähnte Familien-Saga, ein Panorama österreichischer Geschichte, das im Vorfeld von 1848 seinen Ausgang nimmt und bis 1945 heraufreicht, zählt gewiss zu den interessantesten Versuchen, das Genre des historisch-sozialen Romans, bekanntlich eine im Exil häufig aufgegriffene Form, zu bereichern. Ausgangspunkt war ein Tagebuch-Protokoll des Urgroßvaters (Adolf Baiersdorf), eines studentischen Kämpfers der Revolution von 1848, das Alfredo Bauer von einer Tante, die das KZ überlebt hat, überantwortet bekam: „Das in dem Tagebuch verzeichnete Geschehen war derart, dass man daraus eigentlich einen Roman machen musste.“ (Brief, 18.9. 2001) Präzise an Fakten orientiert und zugleich um die nötige romanhafte Erfindung erweitert zeichnet „La esperanza trunca/Verlorene Hoffnung“ den Weg des Protagonisten als einen in engster Auseinandersetzung mit der Zeit und ihren Ideen, ihren Hoffnungen und Enttäuschungen nach. Nie verliert er sich in historistischer Ornamentik und Oberflächlichkeit, in psychologischen Konflikten ohne Bezug zu konkreten sozialen Fragestellungen. Der argentinische Kritiker Ricardo Monner Sans hat dazu am Klappentext festgehalten:

„…La Historia no es la visión fotografica de héroes individuales que ingresan en las galerias privilegiadas, porque en definitiva es la visión ininterrumpida de elencos sociales que buscan su propia realización […] Los hombres en este trabajo de Bauer no son instrumentos congelados que reflejan el immovilismo, sino que son los seres de carne y huesco, condicionados y condicionantes – hacedores y productores del hacer de otros – que viven un mundo que nunca marcha hacia atras.“

Alfredo Bauer, La esperanza trunca, 1976, Klappentext

Mit diesem historischen Familien-Roman hat sich Alfredo Bauer in die zeitgenössische argentinische Literatur eingeschrieben; in der österreichischen, der er mindestens ebenso angehören sollte, wurde dieser Roman bislang nicht zur Kenntnis genommen. Wie wichtig diese doppelte Verankerung Bauer ist, geht aus einer Korrespondenz zwischen den beiden Welten, zugleich eine Verbindung zwischen fiktiver Romanwelt und erfahrener Lebenswelt hervor, wenn am Beginn des Romans Bauer festhält:

„Welch sonderbarer Zufall! Die Tochter aus jener Ehe, meine Urgroßmutter, kam in jener denkwürdigen Maiwoche des Jahres 1810 zur Welt, in dem auf dem fernen Erdteil Südamerika ein Land zu neuem Leben erwachte, in dem sich einige ihrer Nachkommen später niederlassen sollten – Argentinien.“

Bauer, 1985, Verlorene Hoffnung, 8

Seine lyrische Produktion hat Bauer dagegen vorwiegend auf Deutsch verfasst; aber wir besitzen auch einige wenige Gedichte in beiden Sprachen, Gedichte im Brechtschen Tonfall, die sich grundlegenden Fragen sowie sehr konkreten Anliegen stellen, Fragen der Solidarität oder des Nutzens von Standbildern, wobei damit die Frage des historischen Gedächtnisses und der Gefahr des Vergessens verknüpft ist: „Ich aber …/Io en cambio …“ bzw. „Das nützliche Standbild/El monumento útil“ sowie „Was die Sieger sagen/Profecías“.

Ich aber …

Angesichts der Katastrophe kämpfen viele verzweifelt ums materielle Überleben. Ich aber kämpfe verzweifelt angesichts der Katastrophe ums geistige Überleben.

Da muss zuerst, heisst es, der Magen befriedigt werden. Ich aber befriedige zuallererst mein Gewissen.

So nah wie mir, wird gesagt, bin ich keinem. Ich aber bin keinem näher als meinem Nächsten.

Rette sich, wer kann! wird gerufen. Ich aber sag es allen: Rettet doch, wenn ihr könnt die Welt.

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Titel: Bauer, Alfredo: Yo, en cambio
Typoskript der spanischen Fassung des Gedichts Yo, en cambioQuelle: Mit freundlicher Genehmigung von Alfredo Bauer
MalerIn/FotografIn: unbekannt

Eine weitere wichtige kultur- und sprachvermitteltende Tätigkeit ist für Bauer das Übersetzen. Signalhaft konzentrierte sich dabei (bislang) seine Aufmerksamkeit auf zwei Dichter: auf Heinrich Heine sowie auf Jura Soyfer, auf eine universelle Leitgestalt, auf den „más perfecto de todos los poetas“, so Borges in seinem Prolog zur Ausgabe (J. L. Borges, 1983, 9), sowie auf einen tragisch Früh- und Unvollendeten, der an Johann Nestroy und Bert Brecht in der Dramatik sowie an Heinrich Heine und Frank Wedekind in der Lyrik anzuknüpfen imstande war. Soyfer verkörpert für Bauer aber auch eine Stimme, die der österreichischen Literatur neue Horizonte zu erschließen imstande war bzw. gewesen wäre: „tal literatura nueva y renovadora en forma tradicionales se revela, pues, como perfectamente factible“ (A. Bauer, 1991, 3) Aus dem Vorwort Bauers zu seiner Übersetzung geht auch hervor, dass Soyfer in Buenos Aires bereits 1943 präsent war: und zwar mit der Aufführung seines Stückes „Vineta“, das auf großen Anklang gestoßen ist. In den darauf folgenden Jahren folgten Aufführungen der Stücke „Weltuntergang“ und „Astoria“ (Bauer, 1991, 10) auf Initiative der Juventud Austríaca de Buenos Aires und in der Regie durch Germán Ehrenhaus. Bauer hat nun von Heine „Deutschland ein Wintermärchen“ (Alemania cuento de invierno), „Atta Troll“ sowie „Vitzliputzli“, von Soyfer „Broadway Melodie 1492“ (Melodia Americana 1492) ins (kastellanische) Spanisch übertragen.

Gérman Ehrenhaus: geboren 1921 in Deutschland, anschließend bis 1938 in Wien, danach in Buenos Aires, Oboist im Teatro Colón, Regie/Inszenierungen (Soyfer, Bauer)

Dass sich Bauer gerade dem Kolumbus-Stück bzw. Song-Zyklus zugewendet hat, hängt nicht zuletzt mit der kolonisatorischen Problematik, d. h. des zivilisatorischen Konflikts (Europa-Amerika), der Jahrhunderte langen Ausbeutung der menschlichen und materiellen Ressourcen eines Kontinents durch Europa zusammen, die in gewandelter Form noch heute präsent ist und die Entwicklungschancen nachhaltig beeinflusst, ja beeinträchtigt hat. Soyfer war einer der ersten, die den Eurozentrismus auch in der Literatur abgelegt und sich auf die Seite der Indios, der Farbigen gestellt hat: „… se expresaba la solidaridad con los pueblos ‚de color‘ …“ (Bauer, 1991, 13) Bauer hat sich dieser Thematik auch in den jüngst erschienenen Kleinkunststücken „Demetrius“ (in Kooperation mit G. Ehrenhaus) und „Der weisze Elephant“ (2000) gestellt sowie in mehreren Essays: vgl. „Hexenprozess in Tucumán und andere Chroniken aus der Neuen Welt“ 1996).

Jakov Lind (geb. 1927)

Am Ende des ersten Bandes seiner autobiographischen Trilogie – bestehend aus „Counting my steps/Selbstporträt“, „Numbers. A further Autobiography/Nahaufnahme“ und „Crossing/Im Gegenwind“ – steht die nüchterne und für die künftige schriftstellerische Existenz folgenreiche Bilanz über den fragwürdigen Bezirk Identität/Ich – 1945: „Bei Überprüfung meiner Habe stellte ich fest, daß sie aus nichts als der bloßen Haut bestand. Alles übrige war dahin, Zionismus, Idealismus, Liebe, Haß und Sprache. Das Schlimmste – keine Sprache“ (J. Lind, Selbstporträt, 1969/1997, 157). Mittlerweile kann Lind auf ein beträchtliches Werk auf zwei Sprachen zurückblicken, das sich seit Beginn der 60er Jahre zunächst in die deutschsprachige, dann in die englische und neuerdings wieder deutlicher in die österreichische Gegenwartsliteratur eingeschrieben hat: Erzählungen, Theaterstücke, Romane und vor allem seine Exiltrilogie, die 1997 erstmals vollständig in deutscher Fassung vorgelegt wurde.

Im Unterschied zu anderen Schriftstellern, die im Exil die Sprache gewechselt haben und ihre Texte ausschließlich in der Zweitsprache, z. B. in Englisch, verfasst haben wie Frederick Morton hat sich Jakov Lind eine gewisse Bindung an seine deutsche, d. h. eigentlich wienerdeutsche Muttersprache, erhalten (In „Crossing/Gegenwind“gibt es jedenfalls wiederholt die Konstellation German/Viennese/Austrian bzw. Deutsch/Wienerisch/Österreichisch), die insbesondere in der Mitwirkung an der deutschen Neuausgabe der Exiltrilogie sichtbar ist im – sonst seltenen bzw. ungewöhnlichen – Mitwirken an der Rück-Übersetzung ins Deutsche.

„The only German I could still tolerate was Kafka’s texts and, as I discouvered later, the sarcastic humour of Elias Canetti.“

Lind, Crossing, 50

Interessant (und nur in der deutschen Fassung herausgehoben) ist die zusätzliche Bemerkung: „[…] für mich noch erträgliche Deutsch fand ich in Kafkas Texten und […] bei Canetti. Es war dieser österreichisch-deutsch-jüdischer Humor, der mich manchmal zweifeln ließ, ob ich mein österreichisches Deutsch wirklich so einfach aus meinem Hirn würde streichen können.“ (kursiv markiert durch Primus-Heinz Kucher) (Lind, Gegenwind, 61)

„Crossing/Im Gegenwind“, der abschließende Band der Trilogie, arbeitet zunächst die Jahre 1954-1968 auf, die einerseits die anarchische Vagabondage quer durch Europa und Israel seit 1945 durch Ansiedelung in London zu einem Abschluss bringt, andererseits diese auf anderen Ebenen im Bauch der Metropole bzw. in einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Zirkeln des Londoner Exils sowie der sich formierenden (kontinentalen) deutschen Literaturlandschaft der 60er Jahre weiter treibt. Dies ist insofern von Bedeutung, als sich Lind in jenen Jahren nicht nur seinen Rang als ketzerischer Querdenker und Schriftsteller zu erschreiben beginnt, sondern auch seine Bewegungen zwischen den Sprachen als eine Form der Fortsetzung dieser Vagabondage gesehen werden kann. Dass Lind zunächst auf Deutsch zu schreiben beginnt und Ende der 60er Jahre ins Englische wechselt, hat nicht nur mit traumatischen Erfahrungen mit der bundesdeutschen Kritik zu tun, die mit seinem Roman „Eine bessere Welt“ (1969) wenig anzufangen wusste, sondern wohl auch damit, dass sein sprach-kultureller Schwerpunkt sich schrittweise aber unübersehbar verlagerte und mit London einen ihm kongenialen Pol finden konnte.

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Titel: Jakov Lind: Crossing. The Discovery of Two Islands (Buchcover)
Cover von Jakov Lind: Crossing (Cover der englischen Ausgabe). Mit freundlicher Genehmigung von Jakov Lind
MalerIn/FotografIn: unbekannt

Liest man die beiden Texte nebeneinander, d. h. im englischen Original und in der deutschen Übertragung, wird man immer wieder auf Passagen stoßen, die bestimmte Erfahrungen, oder besser: Reflexionen des Autors/Ichs durch Hinzufügungen, Präzisierungen, aber auch Raffungen hervorheben bzw. akzentuieren. Es handelt sich hierbei gewiss nicht um die bei Übertragungen oft auftretende Frage der erlaubten/nötigen Freiheit, auch nicht um stilistische Aspekte, wie z. B. die augenfällige Verschiebung der im Crossing-Text dominanten, selbstbewusst wirkenden „I-/Ich“-Satzanfänge zugunsten einer größeren Varianz (und Unbestimmtheit) im Deutschen, so als gelte es, ein mögliches Unbehagen, das am häufigen Ich-Sagen klebt, abzustreifen, auf elegantere Distanz zu bannen. Es geht Lind vor allem um Klarstellungen, um die jeweiligen Leser/innen und deren von ihm mitbedachten möglichen Erwartungen an den Text. Besonders deutlich wird dies an jenen Stellen, an denen Lind über sein Schreiben, über seine Identität, über seine Beziehung zu den Herkunftsräumen und seiner britischen Umwelt sich zu vergewissern sucht, Rechenschaft, Bilanz legt: in den einleitenden Teilen sowie am Schluss und im Postskriptum. Sie alle sind – obwohl in den Grundzügen ident – doch von feinen Akzenten, Markierungen und Sätzen gekennzeichnet, die im Deutschen fehlen oder neu hinzugekommen sind, Differenzen, die erst bei vergleichender Lektüre wahrgenommen werden können.

Ein sichtbares Zeichen der subtilen Differenzen zwischen den beiden Fassungen ergibt sich bereits aus dem Titel, der im Englischen überdies mit dem Untertitel „The discovery of Two Islands“ versehen ist. „Crossing“ zielt viel direkter als „Im Gegenwind“ auf das Moment der häufigen Grenzüberschreitung (örtlich, sprachlich, kulturell) und wird von Lind auch immer wieder als Leitvokabel im Text, als Herausforderung, als Reflexionsachse verstanden. So heißt es z. B. am Schluss des 18. Abschnitts (vor dem Postscriptum):

„I finally wrote Counting my steps in my new if somewhat limited language – English – and have been writing English ever since, an achievement much greater than I could have anticipated and hoped for when I started to take writing for what it is – a way of life. And though I felt alienated and not quite belonging to my guild of scribblers in the sixties, in Germany or elsewhere in Europe or New York, or closer to home in London, and probably always will, now that I am not very many but still a few years wiser I can see how writing has less to do with culture as such and more to do with my own, a writer’s need; to raise my own voice, to speak my own mind and to cultivate my own style and not to fear to speak for myself. The idea that I ought to change and cross and was changing and crossing any waters of language or culture is a sort of self-deception; but it was a self-deception I needed in order to find the courage to begin.“

Lind, Crossing 1991, 219

In der deutschen Fassung wirken diese bekenntnishaften, behauptenden Überlegungen zurückgenommener; nur an zwei Stellen ist vom „Ich“ die Rede, der ganze, geraffte Absatz wird in eine impersonale Form gesetzt. Auch das zentrale Motiv, die Frage nach der Möglichkeit und Sinnhaftigkeit des „Crossing“ verflüchtigt sich zum einen in die im Original nur schwer auffindbare Frage der „Übersetzbarkeit“, zum anderen in die vage Bemerkung, nur die Illusion an das „zu Wort kommen“ hätte zum Schreiben angetrieben.

„Die Arbeit an Counting my Steps (der deutsche Titel hieß Selbstporträt) nahm drei Jahre in Anspruch. Ich schrieb das Buch auf englisch und schreibe seither nur noch in dieser Sprache, eine Leistung, die mir weit größer als das Schreiben selbst vorkam. Den Mund aufzumachen, sich nicht zu scheuen, die eigene private Perspektive aller Welt zu zeigen, durch das eigene Fernrohr und in einem Stil, der leicht übersetzbar scheint (auch wenn das nicht immer so ist), war der langersehnte Beweis: Wenn es sein muß, kann man überall zu Wort kommen, man muß es nur stark genug wollen. Ohne diese Illusion hätte ich wahrscheinlich nie den Mut dazu gefunden.“

Lind, Gegenwind 1997, 213

Von zahlreichen Umstellungen innerhalb der einzelnen Kapitel abgesehen, die zwar manche Aspekte unterschiedlich (vom Umfang wie von der sprachlichen Gestaltung her) gewichten, aber an der Substanz kaum grundlegende Veränderungen vornehmen, zeigt sich die doppelte Autor-Präsenz vor allem in zwei Bereichen/Kontexten: zum einen in den Abschnitten zur Physiognomie der Londoner Metropole, die im Englischen generell knapper gehalten sind. In der deutschen Ausgabe sind sie um Details und um Episoden bzw. Erfahrungen, die Lind jedoch wichtig zu sein scheinen, angereichert: z. B. Soho, das „puritanische Prinzip des Saufens an der Bar“, den englischen Pragmatismus, das Verhältnis Juden-Christen am Beispiel eines holländischen Gärtners, der untergetauchte Juden beherbergte etc. Zum anderen betrifft es die zentrale Frage der Notwendigkeit des Sprachwechsels. In Crossing wird dieser als geradezu existentielle Bedingung eines Weiter-Leben-Könnens definiert und im selben Absatz über Kafka und Canetti dreimal mit der Unmöglichkeit einer Rückkehr in eine deutschsprachige Umgebung verknüpft. In Gegenwind wird diese Polarisierung (Notwendigkeit/Unmöglichkeit) hingegen sichtbar abgeschwächt, allein schon durch die andere Positionierung, wenn auch nicht aufgegeben.

„As I was never again planning to live in a German speaking land, I needed this new language just like a nomad needs his oasis on his long journey.“

Lind, Crossing, 50

Weitere sichtbare Nuancierungen finden sich v. a. im 6. Kapitel im Umfeld der Reflexionen über das Überleben und die Zeugenschaft sowie im Verhältnis zum Marxismus/Stalinismus/Zionismus. Die programmatisch zu verstehenden Passagen über die „Last“ der Zeugenschaft – „Es muß aber den Moment gegeben haben, als ich mir im stillen schwor, sollte ich überleben, darf ich nie aufhören von dem Grauen zu berichten …“ (Gegenwind, 64) – sind im englischen Text in dieser expliziten Form nicht anzutreffen, während hingegen das entsprechende englische Kapitel mit einem Absatz über Linds Bekenntnis zu einer Art „oneman Zionist Defence League“ bzw. zum „jewish nationalism“ (Crosssing, 61) gegen die Gefahr einer linken, internationalistischen Vereinnahmung im deutschsprachigen Text fehlt, u. a. die aufschlussreiche Passage:

„The fact that so many Jews were in the governments of various East European countries – Hilde Benjamin and Walter Abusch in East Berlin, Rakosi in Budapest, Anna Pauker in Bucharest – was neither good for the Jews nor for the world …“

Crossing, 62

Solchen unterschiedlichen Akzenten stehen, wie bereits erwähnt, Kapitel gegenüber, die sich weitgehend entsprechen, z. B. das wichtige 11. Kapitel, in dem Lind über seine Kontakte mit der Londoner Exilszene, d. h. mit Elias Canetti, Erich Fried, Hilde Spiel, Michael Hamburger, Eric Hobsbawn u. a. berichtet, diese kritisch kommentiert (v. a. im Hinblick auf den ‚Assimilantenstatus‘, auf das unterschiedliche jüdische Selbstverständnis, Humanismus-Ideen; Israel) und dabei auch seine schwierige Hinwendung zum Schriftsteller – „I didn’t want to be a German author. Yet if I wanted to be a writer I’d have no choice but to write in German.“ (Crossing, 125) In deutscher Sprache liest sich diese Passage folgendermaßen: „Ich wollte schreiben, aber nicht als deutscher Autor, gleichzeitig blieb mir nichts anderes übrig, als auf Deutsch zu schreiben.“ (131)

Mehrsprachigkeit - Literarisches Übersetzen: Hilde Spiel - Paul Celan

Während im Fall Hilde Spiels ihre langjährige Integration in die englische Kultur und ihr besonderes Interesse für das Theater geradezu zwangsläufig zu Übersetzungen englischer Dramatiker ins Deutsche führen musste, die dann in den 60er und 70er Jahren tatsächlich zustande kamen und Autoren wie James Saunders und Tom Stoppard im deutschen Sprachraum durchsetzten, war die Situation Celans von Anfang an eine komplexere und zugleich auf verschiedene Sprach- und Kulturräume bezogene, die u. a. im Kontext seiner lebenslangen Recherche nach Identitätssplittern zu sehen ist. An Reinhard Federmann ließ er z. B. 1962 einen Brief in folgender Sprachmontage ausklingen: „Pawel Lwowitsch Tselan/ Russkij poet in partibus nemetskich infedelium/ – ’s ist nur ein Jud“ (Celan-Federmann, 1972, 18). Ein Brief, der die gängige Sprachverortung Celans – als vorwiegend deutschsprachigen, im Frühwerk auch rumänischen Autor, dessen Werk hauptsächlich im Pariser (also französischen Exil entstanden ist) – um einiges relativiert und kompliziert.

Vergleichen Sie dazu auch unsere Porträtvorlesung zu Hilde Spiel.

Zu den auffälligen und faszinierenden Koordinaten des lyrischen Werks Celans zählt der Umstand, dass dieses seit den ersten erhalten gebliebenen Materialien/Notizheften, d. h. seit 1942, mehrsprachig herangewachsen ist. Mehrsprachig in mehrfachem Sinn: in mehreren Sprachen, wobei in den 40er Jahren das Deutsche und Rumänische nebeneinander standen sowie in produktiver Auseinandersetzung mit anderssprachiger Lyrik, im Übersetzen. Dabei begann es mit einer klassischen Herausforderung: mit einem Shakespeare-Sonett, das 25 Jahre später nochmals in einer eigenen Edition und zwar ganz anders, übertragen wird. (Gellhaus, 1999, 7 f.)

Zur Erinnerung: die Sprachwelt, in der Celan aufgewachsen war, war eine mehrsprachige: Deutsch als Mutter- und traumatisch erfahrene „Mördersprache“ (Buck, 1993), Hebräisch, Rumänisch waren die weiteren Mutter-Vatersprachen. Hinzu kam von Kindheit an der Kontakt zum Russischen, zum Französischen und als Sprachbildungs-Erfahrungen die Begegnungen mit dem Englischen, Italienischen, Portugiesischen und – so im zitierten Brief an Reinhard Federmann – und dem Lateinischen, also eine selten tiefe Verwurzelung in den großen Sprachfamilien Europas schlechthin. Und noch etwas: wie zahlreiche Briefe belegen, etwa an Franz Wurm, an seine Frau Gisele Lestrange oder die Verlagskorrespondenz sowie verstreute Notizen, verlor Celan weder beim Schreiben der eigenen Gedichte das Übersetzen noch umgekehrt beim Übersetzen das Schreiben eigener Gedichte aus den Augen.

Bezeichnend ist daher auch der im (französisch verfassten) Testament ausgesprochene Wunsch Beda Alemann gegenüber, neben der Ausgabe der eigenen Gedichte auch eine der übersetzten Gedichte realisiert zu sehen: „Je souhait qu’une édition de mes poèmes et de mes traductions de poèsie anglaise, russe, francaise….“ (zit. bei Gellhaus, 1999, 10). Die zentrale sprachliche Achse des eigenen Werks wie der Zielsprache der übersetzten Autoren blieb dabei allerdings das Deutsche.

„… bis zum 1. Vaduz-August klafft eine Lücke, die ließe sich verzürchern, vielleicht alemannisieren wir dann gemeinsam den Gedichtzyklus von Jacques Dupin?“

Celan, Brief an F. Wurm, 28.3. 1968; Celan-Wurm: BR, 136

Celans übersetzerische Tätigkeit in Paris begann mit Auftragsarbeiten, die allerdings tiefere Spuren hinterlassen werden. Es handelte sich dabei vor allem um Emile M. Ciorans „Précis de décompositions“ (1949), die 1953 unter dem Titel „Lehre vom Zerfall“ auf Deutsch erschienen und die Celan im engen Kontakt mit dem Philosophen erstellte. Celan begegnete in Cioran nicht nur eine faszinierende, ihn auf Adorno und später auf die russische Literatur hinführende intellektuelle Gestalt (Ivanovic 1997, 21); Cioran hatte zum Zeitpunkt dieses Aufeinandertreffens bereits eine Erfahrung gemacht, die Celan in den darauf folgenden Jahren in verwandter Weise wiederholen wird: den Sprachwechsel vom Rumänischen, Ciorans Muttersprache, ins Französische, dem bei Celan die ständige Bewegung zwischen dem Deutschen und Französischen bei weitgehender „Aufgabe“ des Rumänischen entspricht. Dieser Arbeit folgte 1954 die Übertragung des surrealistischen Stückes von Pablo Picasso „Le désir attrapé par la queue“ (1944/45) über die deutsche Besatzung in Paris (GW IV, 8-63). Im selben Jahr legte Celan die erste Übertragung eines Gedichts von G. Appollinaire vor. Ab 1957/1958 erschienen dann Übertragungen von nahezu allen Klassikern der französischen Moderne: von Arthur Rimbaud über Stéphan Mallarmé hin zu René Char und Henri Michaux. Claude David hat mit Bezug auf diese Übersetzungsleistung Celan u. a. als „plus grand poète francais de langue allemand“ (David, 1970, 239) charakterisiert.

Die von Celan gelebte Mehrsprachigkeit bildete nicht nur eine wesentliche Voraussetzung für das Übersetzen; sie floss in eine ? wenngleich paradox formulierte – eigene Poetologie des Übersetzens als Konfrontation und Gespräch mit dem an sich Unübersetzbaren ein, wie es das bekannte Absagediktum an die Zweisprachigkeit – „Dichtung ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache“ (Celan, 1961 GW III, 175) – formuliert, aber wie es auch, unter bestimmten Voraussetzungen, die „Meridian-Rede“ (1960), wieder zurücknimmt und wie es in der wechselseitigen Begegnung zwischen eigenem Werk („Die Niemandsrose“) und jenem Osip Mandel’stams (Mandelstamms), dem wichtigsten in der Gruppe der von Celan übersetzten russsischen Lyriker (A. Blok, S. [J]Esenin, Jewtuschenko, Chlebnikow, Slutschewskij), sichtbar zum Ausdruck kam.

Die Begegnung mit dem Werk des russischen Dichters verstand Celan als ein Auffinden eines „Weggefährten“ (Lütz, 1999, 23). Sie führte zu einem Radio-Essay Celans über ihn und fand Eingang in die Büchner-Preis-Rede „Der Meridian“ (1960). Über diese Begegnung soll Celan gesagt haben: „Die Übertragung von Mandelstam ins Deutsche halte ich für eine nicht weniger wichtige Aufgabe, als meine eigenen Gedichte.“ (zit. Naiditsch, 1999, 99). Diese intensive Zuwendung, diese Weggefährtenschaft hat ihren Ursprung und Grund sowohl in den poetologischen Maximen – „Unterwegs sein der Sprache, das Wort als ‚Bündel‘, der Sinn, der nach verschiedenen Seiten daraus hervorragt“ (Woronescher Hefte, 1935-37) – als auch im dramatischen Lebensschicksal des russischen Lyrikers, der bekanntlich nach Jahren der Exilierung in einem stalinistischen Lager umgekommen ist und damit ein Schicksal teilt, das jenem der Shoah strukturell verwandt war. Als Beispiel dafür gilt die Übersetzung des Gedichts „Diese Nacht“, das Mandel’stam 1916 verfasst und das den Tod der Mutter zum Thema hat. In Celans Übertragung sei „das Gedicht Mandelstamms kaum noch zu erkennen“ (Lütz, 1999, 31). Dennoch gilt diese Übertragung geradezu als Modell dafür, wie dieser poetologische Dialog zwischen Sprachen und Zeiten sowie über Abgründe hinweg realisierbar wird/wurde, indem Celan Mandelstams Maxime vom ‚Wort-Sinnbündel‘ ernst nimmt und die Kontextveränderung zwischen der Entstehungszeit (1916) und der Übertragungszeit (1958/59) in eine schärfere Konturierung des Wortmaterials durch Satzzeichen, durch veränderte Rhythmik (die das ursprüngliche Schlaflied in ein stakkatoartiges Verrechnen des Wahrgenommenen verwandelt) und durch elliptische Formen fasst. Denn zwischen den erwähnten Jahreszahlen liegt die Erfahrung der Shoa, der Tod der Mutter im Massenmord – und das Exil.

Mandelstam Osip – Celan Paul: Diese Nacht
Diese Nacht: nicht gutzumachen, bei euch: Licht, trotzdem. Sonnen, schwarz, die sich entfachen Vor Jerusalem.
Sonnen, gelb: grösstes Entsetzen – schlaf, eiapopei. Helles Judenhaus: sei setzen mein Mutter bei.
Sie, die nicht mehr priesterlichen, gnad und heilsberaubt, singen aus der Welt, im Lichte, eines Weibes Staub.
Judenstimmen, die nicht schweigen, Mutter, wie es schallt. Ich erwach in meiner Wiege, sonnenschwarz umstrahlt.

Celan GW V, 95

Anhang

Forschungsliteratur

  • Bodenheimer, Alfred; Sandbank, Shimon (Hgg.) - Poetik der Transformation. Paul Celan - Übersetzer und übersetzt
  • Bollack, Jean - Paul Celan. Poetik der Fremdheit
  • Buck, Theo - "Wachstum oder Wunde?" Zu Celans Judentum
  • Buck, Theo - Celan übersetzt Picasso
  • Dove, Richard - Almost an English author: R. Neumann's English language novels
  • Dove, Richard - The gift of tongues. German-Speaking novelists writing in English
  • Durzak, Manfred - Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen
  • Durzak, Manfred - Laokoons Söhne. Zur Sprachproblematik im Exil
  • Förster, Leonhard - Dichten in fremden Sprachen. Vielsprachigkeit in der Literatur
  • Grimm, Reinhold - Nachwort
  • Helfrich, Cilly - Es ist ein Aschensommer in der Welt
  • Ivanovic, Christine - Celan, Cioran, Adorno. Übersetzungskritische Überlegungen zur Ästhetik der Negation
  • Köpke, Wulf - Die Wirkung des Exils auf Sprache und Stil. Ein Vorschlag zur Forschung
  • Kreis, Gabriele - Frauen im Exil. Dichtung und Wirklichkeit
  • Kucher, Primus-Heinz - Heinz - "Ich sollte eine Autobiografie schreiben, die ich nicht schreiben wollte." Zu Jakov Linds Lebens- bzw. Exiltrilogie
  • Kucher, Primus-Heinz - Heinz - Literarische Mehrsprachigkeit/Polyglossie in den deutschsprachigen Literaturen des 19. und 20. Jahrhunderts
  • Lamping, Dieter - Fisch und Fehler. Der 'Dialog der Sprachen' in der Literatur an der Grenze
  • Lamping, Dieter - Haben Schriftsteller nur eine Sprache? Über den Sprachwechsel in der Exilliteratur
  • Lehmann, Annette Jael - Im Zeichen der Shoa. Aspekte der Dichtungs- und Sprachkrise bei Rose Ausländer und Nelly Sachs
  • Lehmann, Jürgen; Ivanovic, Christine (Hgg.) - Stationen. Kontinuität und Entwicklung in Paul Celans Übersetzungswerk
  • Lindemann, Gisela - Des Häftlings letzte Pflicht war der Tod. Versuch über Jean Améry
  • Lorenz, Dagmar - Scheitern als Ereignis. Der Autor Jean Améry im Kontext europäischer Kulturkritik
  • Lütz, Jürgen - "Der Schmerz schläft bei den Worten". Freigesetzte Worte, freigesetzte Zeit. Paul Celan als Übersetzer
  • Naiditsch, Larissa - Paul Celan als Übersetzer von Osip Mandel'stams "Bahnhofkonzert"
  • Olschner, Moore Leonard - "Der feste Buchstab". Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen
  • Schmidt-Dengler, Wendelin - Dengler, Wendelin - Jakov Lind zum Siebzigsten
  • Steiner, George - Eine exakte Kunst. Und über die Flucht vieler Schriftsteller ins Englische. Die Heimkehr von Babel
  • Steiner, George - Extraterritorial
  • Strickhausen, Waltraud - Schreiben in der Sprache des Anderen. - Eine Vorstudie zu den Publikationsmöglichkeiten und der Wirkung englischsprachiger Exilwerke in Großbritannien
  • Veichtlbauer, Judith; Steiner, Stephan - Jakov Lind
  • Zhidong, Yang - Klara Blum - Zhu Bailan (1904 - 1971)
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