Exil Überblicke 17.) Exil – Aspekte und Kontexte

Begriffsbestimmung und Bedingungen des Exils

Die österreichische Exilliteratur ist eines der entscheidendsten Kapitel der österreichischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Außer Streit steht, dass ein großer Anteil der Autoren, die unser Verständnis von der österreichischen Literatur prägen, aus ihrem Heimatland flüchteten und zumindest eine Zeit lang im Ausland blieben; manche für immer.

Robert Musil, Joseph Roth, Ödön von Horváth, Paul Celan, Stefan Zweig, Theodor Kramer, Erich Fried, Stella Rotenberg, Leo Perutz, Otto Soyka, Hans Flesch-Brunningen, Hilde Spiel, Hermynia Zur Mühlen, Elias Canetti, H. G. Adler, Joe Lederer, Robert Neumann, Oskar Kokoschka, Max Brod, Rose Ausländer, Albert Ehrenstein, Karl Farkas, Berthold Viertel, Hermann Broch, Ferdinand Bruckner, Fritz Kortner, Vicki Baum, Franz Blei, Franz Werfel, Anton Kuh, Alfred Polgar, Alexander Roda Roda, Friedrich Torberg – die Liste ist länger. Insgesamt sind es ca. 1200 Autor/inn/en, die seit 1934 Österreich unfreiwillig verließen, also ins Exil gingen.

Damit befinden wir uns auch schon mitten in der Diskussion um die zeitliche Abgrenzung der österreichischen Exilliteratur. 1938, der „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland, gilt im Allgemeinen als Beginn. Allerdings haben schon 1934 auf Grund des Bürgerkrieges im Februar dieses Jahres und dem Ende der Demokratie in Österreich Robert Neumann und Stefan Zweig das Land verlassen. Nach der Machtergreifung durch Engelbert Dollfuß und der Errichtung des Ständestaates mit der so genannten „Maiverfassung“ (1. Mai 1934) wurden sämtliche Parteien in Österreich mit Ausnahme der „Vaterländischen Front“ verboten. Die Bevölkerung wurde nach ihrer beruflichen Zugehörigkeit nach mittelalterlichem Vorbild in Stände eingeteilt. Die Ständevertreter wurden zunächst ernannt, später sollten sie von den Mitgliedern der Stände gewählt werden. Aber dazu kam es nicht mehr. Gleichzeitig wurde ein Konkordat mit dem Vatikan geschlossen. Das ständische, sich als deutsch definierende Österreich sollte eine katholische Bastion gegen den Nationalsozialismus und den Kommunismus bilden. In Wirklichkeit war dieser Staat eine Diktatur, die ihre Gegner mit Terror und Vernichtung verfolgte. Die Heimwehr, paramilitärische Einheiten der „Vaterländischen Front“, verübte Willkürakte, terrorisierte ihre Gegner. Aktivisten der sozialistischen Partei wurden hingerichtet.

Das Dollfußregime hielt sich nicht lange. Schon im Juli 1934 starteten die damals noch illegalen Nationalsozialisten einen Putschversuch, um Österreich in ihre Macht zu bekommen. Der Versuch scheiterte, aber Engelbert Dollfuß wurde am 25. Juli so schwer verletzt, dass er noch am selben Tag seinen Wunden erlag. Die Regierungsgeschäfte übernahm der Freund und Mitarbeiter des Diktators, Dr. Kurt Schuschnigg.

Hitler kam den nationalsozialistischen Putschisten nicht zur Hilfe. Deshalb konnte Schuschnigg den Aufstand niederringen. Er stellte die Führer des Putsches vor Gericht. Da das Standrecht galt, wurden die Rädelsführer hingerichtet. Allerdings war der Sieg nur ein vorläufiger. Denn durch die Annäherung Hitlers an Mussolini (ab 1936) verlor Österreich die Rückendeckung durch den italienischen Diktator. Mussolini forderte Schuschnigg auf, sich mit Hitler auf einen modus vivendi zu einigen. Unter Druck geraten, konnte Schuschnigg nicht anders, als Hitler Zugeständnisse zu machen. Im „Juliabkommen“ 1936 wurde festgelegt, dass zwei Deutschnationale in die Österreichische Regierung aufgenommen wurden. Die NSDAP blieb formal zwar weiterhin verboten, de facto unternahm man aber kaum etwas gegen ihre Propagandatätigkeit.

Schuschnigg löste die Heimwehr auf und versuchte die Wirtschaft zu stärken, damit es zumindest keine ökonomischen Gründe für einen Anschluss an Hitler-Deutschland gäbe. Verbindung mit den sozialistischen Kräften im Land nahm er aber nur sehr zaghaft auf. Erst für die Volksabstimmung für die Unabhängigkeit Österreichs 1938 erreichte er die Unterstützung selbst der emigrierten Sozialisten. Da war es schon zu spät. Hitler zitierte Schuschnigg nach Berchtesgaden (Berchtesgadner Abkommen) und zwang ihn, den Nationalsozialisten Seyß-Inquart zum Innenminister zu bestellen.

Hitler kam der Volksabstimmung mit seinem Einmarsch in der Nacht zum 12. März 1938 in Österreich zuvor. Schuschnigg war am 11. März zurückgetreten, nachdem er weder bei den Westmächten noch bei seinen Nachbarn Unterstützung gefunden hatte. Seyß-Inquart wurde zum Bundeskanzler ernannt.

Am 13. März verkündete Hitler die Annexion Österreichs. Der Einmarsch wurde bejubelt. Gleichzeitig begann die Gestapo ihr blutiges Handwerk. Tausende Österreicher wurden umgehend verhaftet und in Konzentrationslager deportiert. (vgl. Portisch 1988, 143-192)

Angesichts der geschichtlichen Entwicklung in Österreich, ist es nicht verwunderlich, dass die Fluchtbewegung und in der Folge Emigration und Exil bereits 1934 einsetzten. Dass viele bis zur Machtergreifung Hitlers ausgeharrt haben, in der Hoffnung, es könne sich noch einmal alles zum Guten wenden, ist kein Argument, den klar- und vorsichtigen Flüchtlingen ihr Exilantentum abzusprechen, oder zu behaupten, ihr Exil hätte erst 1938 begonnen, zuvor wären sie nur Emigranten gewesen. Sie hätte ja jederzeit nach Österreich zurückkehren können.

Es ist aber nicht nur die Bedrohung von Leib, Leben und Freiheit, die zum Exil führt. Es ist auch die Bedrohung der geistigen und seelischen Integrität, die man in dieser Diskussion berücksichtigen sollte. Frithjof Trapp beschreibt eine grundsätzliche Haltung, die zwar nicht allen, aber vielen Exilanten zueigen war.

„Olden, seiner Herkunft nach ein politisch engagierter Journalist, bekannte sich gleich zu Beginn des Exils mit einem aufsehenerregenden Artikel zur Notwendigkeit, dass jeder Exilant sich demonstrativ gegen Hitler stellen müsse. ‚Mir wäre nichts Besonderes passiert‘: So lautete die Überschrift. Oldens Argumentation ist, dass angesichts des Systems der Hitlerschen Diktatur Exilanten nicht nur jene seien, die aus rassischen oder politischen Gründen zur Flucht gezwungen seien, sondern dass es – wie ihn selber – viele gäbe, die ohne den besonderen Anlass der Furcht vor Verfolgung aus ethisch-moralischer Überzeugung Deutschland verlassen hätten, weil sie nicht bereit seien, in einem faschistischem Staat zu leben.“

Trapp 1983, 13

Hilde Spiel

Ähnlich argumentiert auch Hilde Spiel in ihrem Memoirenband „Die hellen und die finsteren Zeiten“:

„Und nun beginnt der Prozeß der Aufweichung, der langsamen, aber unausweichlichen Korruption – ein Grund unter anderem, weshalb ich auswandern muß, so bald als möglich, aus diesem Österreich des Ständestaates, aus Furcht vor meiner eigenen Veränderung. Peter [de Mendelssohn, Hilde Spiels erster Ehemann] hat nach dem Krieg, in einem Rundfunkgespräch mit Gottfried Benn, die Notwendigkeit der Emigration aus einem totalitär gewordenen Land daraus erklärt, daß sie einem ‚den Rückzug auf einen faulen Kompromiss‘ unmöglich macht. Wenn ein Mensch sich selbst einen Weg versperrt, ‚von dem er weiß, daß er äußerlich bequem ist, ihn aber innerlich in die Hölle bringen wird, dann kann das nicht vergeblich sein‘. Und er fügte hinzu: ‚Wir alle sind außerordentlich schwache Menschen, drinnen wie draußen, sind alle den unseligen Versuchungen preisgegeben, jeden Tag, Versuchungen politischer, geistiger, moralischer Art, ganz gleich. Es geht darum, sich den Rückzug auf diese Versuchungen abzuschneiden. ‚So und nicht anders, empfand ich damals auch.‘

Spiel 1989, 114

Hilde Spiel flüchtete mit ihrem Mann Peter de Mendelssohn 1936 nach der Ermordung ihres Lehrers, des Philosophen Moritz Schlick, durch einen Faschisten nach England.

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Titel: Spiel, Hilde (1936)
Quelle: Hilde Spiel. Weltbürgerin der Literatur. Hg. Von Hans A. Neunzig und Ingrid Schramm. Wien: Paul Zsolnay Verlag 1999 (= PROFILE. Magazin des Österreichischen Literaturarchivs, 2. Jg., Heft 3, März 1999) S. 63. Mit freundlicher Genehmigung von Felix de Mendelssohn
MalerIn/FotografIn: unbekannt

Von der Dauer des Exils

Für die meisten Exilanten endet das Exil nicht mit dem Ende des Krieges. Die Folgen sind für sie weiterhin spürbar. Für viele ist eine Rückkehr nach Österreich oder Deutschland auch nach dem Ende der Herrschaft der Nationalsozialisten undenkbar.

Wie der Beginn so ist auch das Ende der Periode der Exilliteratur umstritten. Konrad Feilchenfeldt (1986) legt in seiner Einführung den Zeitrahmen von 1933 bis 1945 fest und begründet dies durch die politischen Gegebenheiten. Wulf Koepken und Michael Winkler schließen sich dieser Einschätzung als Herausgeber eines Bandes zur Exilliteratur mit dem Titel „Exilliteratur 1933-1945“ (1989) an. Das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes und die Dokumentationsstelle für neuere Österreichische Literatur (1977) setzen die Dauer des Exils von 1934 bis 1945 fest. H. A. Walter (1984) weitet den Zeitraum von 1933 bis 1950 aus. Als Endpunkt dient ihm das Datum der Gründung der BRD und der DDR. Was das Ende des Exils anbelangt, ist Ernst Loewy zuzustimmen. In seinem Aufsatz „Von der Dauer des Exils“ weitete er die Dauer des Exils bis in die Gegenwart aus.

„Denn auch das Exil im engeren, im emphatischen, das heißt vor allem, sich als Ausnahmezustand verstehenden Sinn, läßt sich nicht allein durch den Kalender definieren. Es entspricht nicht nur äußeren Normen, sondern auch inneren Befindlichkeiten. Sie können auch nach dem Entfallen der äußeren Gründe für das Verbleiben im Ausland wirksam bleiben. In diesem Sinne sind allerdings viele der deutschen Exilschriftsteller, wo immer sie sich auch befanden oder noch befinden, ihr ganzes Leben im Exil geblieben.“

Loewy 1990, 34

Ruth Klüger

Es gab auch Autoren, wie Ruth Klüger, die erst nach 1945 ins Exil gingen, aus dem einfachen Grund, weil sie vorher in KZs interniert waren und nur knapp dem Tod entgingen. Die Begründung, dass man nicht mit Menschen, die die eigene Vernichtung planmäßig und kalt vorangetrieben haben, in ein und demselben Land leben möchte, ist nachvollziehbar.

In ihren Erinnerungen „weiter leben“ (1992) schildert Ruth Klüger ihre Erlebnisse in deutschen Konzentrationslagern. Sie war noch ein Kind, als sie und ihre Mutter von den Nationalsozialisten interniert wurden. Ruth Klüger überlebte und emigrierte nach ihrer Befreiung in die USA Sie ist ein Beispiel dafür, dass das Exil nicht auf die Zeit zwischen 1938 und 1945 beschränkt ist.

„Selektion, es sollte eine Selektion geben, Frauen von 15 bis 45 sollten sich zu einem Arbeitstransport melden, antreten in einer bestimmten Baracke, zu einem bestimmten Termin. Es gab welche, die konstatierten, bislang sei es immer noch schlimmer, nie besser geworden, und sich dementsprechend vor der Selektion drückten, nicht antraten. Meine Mutter war anderer Meinung. Schlimmer als hier könne es nicht werden. Die Alternative sei das Leben. Doch das Wort Selektion hatte in Auschwitz einen bösen Klang. Man konnte keineswegs sicher sein, daß es wirklich eine Selektion für ein Arbeitslager und nicht eine für die Gaskammer war. Arbeitslager war logisch, denn warum sonst die Altersgrenzen? Andererseits war Logik nicht das Grundprinzip dieser Ortschaft.


Meine Mutter hat von Anfang an im Vernichtungslager richtig reagiert. Weil sie sofort verstand, was hier gespielt wurde, hatte sie nach unserer Ankunft den Freitod für uns beide vorgeschlagen, und als ich mich weigerte, hat sie den ersten und einzigen Ausweg wahrgenommen. Doch ich meine, es war nicht die Vernunft, sondern ein tiefsitzender Verfolgungswahn, der sie so reagieren ließ. Psychologen wie Bruno Bettelheim meinen, ein ausgeglichener, vernünftiger Mensch, der nicht durch eine bürgerliche Erziehung verdorben worden ist, müßte sich an einem auschwitzartigen Ort auf die neuen Verhältnisse umstellen können. Ich denke da anders. Ich glaube, dass Zwangsneurotiker, die von Paranoia gefährdet waren, in Auschwitz am ehesten zurechtkamen, denn sie waren dort gelandet, wo die gesellschaftliche Ordnung oder Unordnung, ihre Wahnvorstellungen eingeholt hatte. Wer den Verstand nicht verlieren will, hat deshalb recht, weil der Verstand als die menschliche Eigenschaft schlechthin uns so lieb sein muß wie die Liebe. Doch in Auschwitz konnte die Liebe nicht retten und der Verstand auch nicht. Von daher weiß ich, daß es keine unbedingten Rettungsmittel gibt, und unter den bedingten Rettungsmitteln kann auch Paranoia sein. Meine Mutter, die sich vorher und besonders nachher noch öfters verfolgt geglaubt hat, war dieses eine Mal im Recht und hat sich ganz folgerichtig verhalten.

Aber der Preis ist zu hoch: Dieser Wahnsinn, den sie latent mit sich herumträgt wie einen schlafenden Kater, der sich nur gelegentlich streckt, gähnt, Buckel macht und sanft herumstreicht, plötzlich mit den Zähnen klappert und sich mit ausgestreckten Krallen einen Vogel greift, nachher wieder schlafen geht – so ein Raubtier möchte ich nicht in mir tragen, auch wenn es mir im nächsten Vernichtungslager das Leben retten könnte.“

Klüger 1992, 127 f.

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Titel: Klüger, Ruth
Ruth Klüger - Die Rechtsansprüche konnten trotz aller Bemühungen nicht in allen Fällen ermittelt werden. Wir bitten, sich mit der Projektleitung in Verbindung zu setzen!
MalerIn/FotografIn: unbekannt
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Titel: klueger
Quelle: MdZ. Mit freundlicher Genehmigung von Alisa Douer.
MalerIn/FotografIn: © Alisa Douer
Klüger, Ruth: Thema: Theresienstadt KZ (Ruth Klüger)

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger; Dauer: 0:39

Klüger, Ruth: Thema: Zwangsarbeit im KZ (Ruth Klüger)

Beschreibung: Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 0:39

Klüger, Ruth: Interview. Literatur als Überlebensmittel im KZ

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 0:39

Klüger, Ruth: Interview: Über schwierige und gescheiterte Vergangenheits-Aufarbeitung

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger); Dauer: 1:12

Klüger, Ruth: Interview: Über „weiter leben“, Wiener Neurosen, Gedichte

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger); Dauer: 1:03

Klüger, Ruth: Interview: Verdrängungen in ganz Europa

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger; Dauer: 0:30

Klüger, Ruth: Interview: Vortrag von Leo Beck

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger; Dauer: 0:41

Klüger, Ruth: Interview: Über Wien als sprachliche „Heimat“ …

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger; Dauer: 1:58

Klüger, Ruth: Interview: Gedichte schreiben

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger); Dauer: 0:39

Klüger, Ruth: Interview: Über den Adorno-Satz über Gedichte nach Auschwitz …

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger; 2:53

Klüger, Ruth: Interview: Außenseitererfahrung, Immigrantin in USA

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger), Dauer: 2:27

Klüger, Ruth: Interview: Hoffnung und Untätigkeit

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch die Autorin)

Klüger, Ruth: Interview: Über das Erzählen über den Holocaust und Flucht (Kinder)

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 0:38

Klüger, Ruth: Interview: Judentum und Religion, Mendelssohn

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 0:41

Klüger, Ruth: Interview: Über das eigene Judentum, über eigene Sozialisation, Biographie

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 1:08

Klüger, Ruth: Interview: Kinder im KZ, Kindheit

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 0:20

Klüger, Ruth: Interview: Verbote für jüdische Kinder, Schiller-Balladen, Uhland-Gedichte

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 0:38

Klüger, Ruth: Interview: Über den Besuch von Gedenkstätten …

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 2:52

Klüger, Ruth: Interview: Über die Kraft der Kunst für das Überleben – „Eskapismus“

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 0:57

Klüger, Ruth: Interview: Über den problematischen Deutschen Martin Walser

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 0:32

Klüger, Ruth: Interview: Über den „Sinn“ der KZs – Über die Funktion des Leidens

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch die Autorin)

Klüger, Ruth: Interview: Über die eigentlichen Opfer (6 Millionen Tote der Shoa)

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 0:23

Klüger, Ruth: Interview: Primo Levi: KZ als „seine Universität“

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 0:47

Klüger, Ruth: Interview: Über die Vaterstadt Wien – Über ihren Vater …

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger) Dauer: 1:19

Klüger, Ruth: Interview: Auschwitz als Zufall – Wien als Schicksal

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger; Dauer: 1:01

Klüger, Ruth: Interview: 1938 – Wien als judenfeindliche Stadt

Interview mit Ruth Klüger (mit freundlicher Genehmigung durch Ruth Klüger); Dauer: 0:56

„Und doch hat alles anders ausgesehen. Aus dem Vernichtungslager kommend, schaute ich auf die normale Landschaft hinaus, als sei sie unwirklich geworden. Auf dem Hinweg hatte ich sie nicht gesehen, und jetzt lag das Land, von dem die Schlesier noch heute schwärmen, in Postkartenanmut so friedlich da, als hätte die Zeit stillgestanden und ich käme nicht direkt aus Auschwitz. Radfahrer auf stillen Landwegen, zwischen sonnenbeschienen Feldern. Ich sehnte mich dahinaus. Die Welt hatte sich nicht verändert, Auschwitz war nicht auf einem fremden Planeten gewesen, sondern eingebettet in das Leben da vor uns, das weitergegangen war wie vorher. Ich grübelte über die Inkongruenz, daß diese Sorglosigkeit im selben Raum existierte wie unser Transport. Unser Zug gehörte doch zu den Lagern, zu der Eigenständigkeit und Besonderheit der Lagerexistenz, und da draußen war Polen, oder Deutschland, Oberschlesien, wie immer benannt, Heimat für die Menschen, an denen wir vorbeifuhren, Ort, an dem sie sich wohlfühlten. Das von mir Erlebte hatte die da draußen nicht einmal berührt. Ich entdeckte das Geheimnis der Gleichzeitigkeit als etwas Unergründliches, nicht ganz Vorstellbares, verwandt mit der Unendlichkeit, Ewigkeit.

Unser Zug fuhr an einem Ferienlager vorbei. Da war ein Junge, von weither gesehen, der eine Fahne geschwungen hat, Geste der Bejahung der Lichtseite des Systems, an dessen blutverschmierter, kotiger Unterseite man uns entlangschleifte. Soviel Helle, wie konnte das sein?“

Klüger 1992, 143 f.

„In der deutschen Bevölkerung war der Judenhaß unterschwellig geworden, brodelte aber weiter, wie ein Ragout in einem Kochtopf guter Qualität eine Weile weiterbrodelt und warm bleibt, nachdem die Herdflamme längst abgedreht wurde. Wie hätte es anders sein können? Die Überlebenden erinnerten durch ihr bloßes Dasein an das Vergangene und Begangene. Vielleicht fürchtete man, die Mißhandelten könnten sich rächen, oder man dachte, wir seien wie die geschlagenen, und daher bissigen, Hunde fürs Zusammenleben mit Menschen untauglich geworden. Wer draußen in der Freiheit gewesen war, glaubte leicht und ohne sich viel Rechenschaft darüber zu geben, nur Kriminelle hätten die KZs überlebt; oder diejenigen, die dort kriminalisiert worden seien. Was wiederum im Widerspruch stand zu der hartnäckigen und ebenfalls verbreiteten Überzeugung, die KZs seien nicht so schlimm gewesen, dafür seien wir, die sie überlebt hatten der beste Beweis. Ehre den Toten, den Lebenden eher Misstrauen.“

Klüger 1992, 193 f.

Die „Krankheit des Exils“, wie Hilde Spiel schreibt, ist ein chronischer Zustand, er wird nicht durch die Rückkehr in die ehemalige Heimat beendet. Die Kluft zwischen denen, die fortgegangen sind und jenen, die zurückblieben, ist letztlich unüberbrückbar. Hilde Spiel behauptet auch, dass das Exil als Krankheit vererbbar sei, und meint das gar nicht als Metapher. Sie schildert den Fall einer Familie, die nach England ins Exil ging. Die Kinder wuchsen dort auf.

„Als ihre Eltern nach dem Kriege, wie nie anders geplant, zurück in ihre Heimat fuhren, wurde das Weltbild der Kinder mit einem Mal spiegelverkehrt. Sie waren damals fünfzehn und siebzehn. Das jüngere Mädchen ertrug die Verpflanzung nicht. Sie erhängte sich, ja sie erhängte sich eines Tages in einem Pensionat. Ihr Bruder ging später nach England zurück und heiratete ein englisches Mädchen.“

Hilde Spiel: Psychologie des Exils. In: Neue Rundschau, Jg 86/1975, S.438 f.

„Ich habe keine vita. Ich kann mich nicht erinnern. Emigranten können das nicht“, schreibt Günther Anders 1962 in „Post Festum“. (Anders 1985, 64 ff) Sein Leben könne nicht mehr als der sprichwörtliche lange ruhige Fluss betrachtet werden. Die Lebenseinheit sei aufgelöst.

„Kennzeichnend für uns ist nicht, daß unser Leben durch ein (unerinnerbares) Intermezzo eine Unterbrechung erfahren hat, sondern daß die Zerfällung unseres Lebens in mehrere Leben endgültig geworden ist; und das heißt, daß das zweite Leben im Winkel vom ersten absteht, und das dritte wieder vom zweiten, […] Nach jeder Knickung wurde das der Knickung vorausliegende Stück Leben unsichtbar. An Paris konnte ich mich, nachdem ich die nächste Station New York erreicht hatte, nur noch unzulänglich erinnern; und seit ich in Wien lebe, liegt die Werkstätte, zu der ich in Los Angeles zu pilgern hatte, im tiefsten Dunkel […]“

Anders 1985, 71

Die Nach- und Fortwirkung des Exils als Krankheit ist hier die Auslöschung der Erinnerung an die eigenen Existenz. Die Erfahrung des Seins, so Anders, entstehe daraus, dass man jemandem im Gedächtnis ist.

„Daß man unser im Exil gedacht hatte, davon kann keine Rede sein. Eine kurze Zeit lang galt zwar noch eine infernalische Variante dieses Seinsbeweises, denn wir waren ja Verfolgte gewesen. Auch aus dem ‚Man ist hinter mir her‘ ergibt sich ja noch ein letztes `Also bin ich`, auch der Verfolger denkt ja noch unser, wenn auch nur, damit es unsereins nicht mehr gebe – gleichviel, auch dieses skandalöse Minimum an Bestätigung ging rasch verloren, und bald wanderten wir, wo immer der Zufall uns hinverschlagen hatte, zwischen Millionen, die uns als Luft behandelten – und so wurden wir Luft.“

Anders 1985, 71

Der Vergleich mit den Überlebenden des Holocaust darf in diesem Falle gezogen werden. Denn die Nazis waren ebenso auf die Vernichtung und Ermordung der vor ihnen Geflohenen aus, wie auf die Vernichtung jener, deren sie habhaft werden konnten. Die Erlösung der Opfer kann nie wirklich stattfinden. Sowenig wie die Überlebenden der KZs jemals wirklich die Stätte ihrer Todesangst verlassen haben, sowenig sind die Exilanten jemals wirklich heimgekehrt.

Vielleicht hat diese Krankheit auch in der österreichischen Gegenwartsliteratur tiefere Spuren hinterlassen, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Bei Ingeborg Bachmann – man erinnert sich an ihr Interview über den Einmarsch deutscher Truppen, an „Der Fall Franza“ – wird die Verletzung offensichtlich, die sie noch später aus dem Land trieb, und selbst Christoph Ransmayrs Aufenthalt in Irland dürfte nicht nur finanztechnische Gründe haben.

Als Hitler 1938 in Österreich die Macht übernahm, war es für viele schon zu spät. Ihnen waren viele Fluchtwege abgeschnitten. Egon Friedell und Kurt Sonnenfeld zum Beispiel sahen das Ende der Zeiten gekommen und nahmen sich das Leben. Andere Autoren wurden von den Nazis ermordet, eine noch größere Zahl wurde verhaftet (z. B. Jura Soyfer) und in Konzentrationslagern interniert.

Andis, Helli erinnert sich (Jura Soyfer, Austrofaschismus 1934)

O-Ton Helli Andis (Ultmann): Helly Andis (Ultmann) "Erinnerung an eine Liebe" (New York 1995). ORF-Sendung (Ausschnitt), Dauer: 0:25 min. Mit freundlicher Genehmigung des Thomas Sessler Verlags, Wien 2002.

Andis, Helli erinnert sich (Der junge Jura Soyfer, Anfänge seiner Schriftstellerlaufbahn

O-Ton Helli Andis (Ultmann): "Erinnerung an eine Liebe" (New York 1995). ORF-Sendung (Ausschnitt), Dauer: 0:53 min. Mit freundlicher Genehmigung des Thomas Sessler Verlags, Wien 2002.

Andis, Helli erinnert sich (Jura Soyfers gescheiterter Fluchtversuch in die Schweiz)

O-Ton Helli Andis (Ultmann): "Erinnerung an eine Liebe" (New York 1995). ORF-Sendung (Ausschnitt), Dauer:1:11 min. Mit freundlicher Genehmigung des Thomas Sessler Verlags, Wien 2002.

Andis, Helli erinnert sich (Zur Verhaftung Jura Soyfers)

O-Ton Helli Andis (Ultmann): "Erinnerung an eine Liebe" (New York 1995). ORF-Sendung (Ausschnitt), Dauer: 0:46 min. Mit freundlicher Genehmigung des Thomas Sessler Verlags, Wien 2002.

Wer konnte, floh. Hermann Broch etwa hatte zwar schon länger den Gedanken ans Exil erwogen, schob die Umsetzung aber aus familiären Gründen hinaus. Die erste politische Säuberungswelle im März 1938 brachte ihn auf die schwarze Liste. Am 13. März 1938 wurde er weniger wegen seines Judentums als wegen seiner Schriften verhaftet und ins Bezirksgericht Bad Aussee gebracht. Mangels konkreter Hinweise – Manuskripte waren von seinen Freunden vernichtet worden – musste man ihn wieder freilassen.

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Titel: Broch, Hermann: Porträt
Quelle: Bolbecher, Siglinde/Kaiser, Konstantin: Lexikon der österreichischen Exilliteratur, Wien: Deuticke, 2000, S. 114. Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. www.bildarchiv.at Mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 2002
MalerIn/FotografIn:

Ursprünglich wollte Broch nach Paris flüchten, aber es gab Schwierigkeiten mit den Reisepapieren. Das Einreisevisum für England erhielt er Anfang Juli 1938. Ohne Gepäck und finanzielle Mittel flüchtete er nach London. Über die Unterstützung von Thomas Mann und der „American Guild for German Cultural Freedom“ erhielt Broch die Möglichkeit in die USA zu emigrieren und erhielt von der Guild dann auch finanzielle Hilfe. (vgl. Durzak 1967, 36 f.)

Robert Musil flüchtete in die neutrale Schweiz, wo er sich zunächst wohl fühlt, später aber das typische Schicksal eines Exilautors erlitt. Die finanziellen Unterstützungen schwanden dahin, die literarische Anerkennung blieb aus. Der Versuch einer Emigration in die USA scheiterte. Robert Musil starb am 15. April 1942 im Schweizer Exil. Wie Hermann Broch setzte Robert Musil seine literarische Arbeit trotz aller Hindernisse fort. Broch arbeitete während dieser Zeit vor allem an seinem Roman „Der Tod des Vergil“. Robert Musils am dritten Band des unvollendeten Projekts „Mann ohne Eigenschaften“.

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Titel: Musil, Robert
Robert Musil, Foto aus dem 1943 im Selbstverlag erschienenen 3. Band des "Mann ohne Eigenschaften". Quelle: MdZ 14, Nr.1/Doppelnummer 1997. Archiv der Theodor Kramer Gesellschaft
MalerIn/FotografIn: unbekannt

Österreichische Autoren flüchteten in alle Himmelsrichtungen. Ödön von Horváth wandte sich zuerst an Tschechoslowakei und flüchtete gleich darauf nach Paris, weil die Nazis ihm auf den Fersen waren. Nur sein früher Tod 1938 verhinderte ein weiteres Exil. Neben der Schweiz und den U.S.A. zählten Großbritannien, Frankreich, die Sowjetunion, Schweden, Palästina, und die Länder Süd- und Mittelamerikas zu den Ländern des Exils für österreichische Autoren.

Sprache

Überdurchschnittlich viele österreichische Autoren schafften den Wechsel in die Sprache ihres Gastlandes. Andere konnten ihre literarischen Werke weiterhin nur in deutscher Sprache verfassen, und hatten mit dem Problem zu kämpfen, dass sie in einer Sprache schrieben, die stark von den Nationalsozialisten vereinnahmt war.

Jeder, der in ein nicht-deutschsprachiges Land flüchtete, hatte damit zu kämpfen, dass seine Muttersprache plötzlich völlig wertlos war.

„[…] aber keine Gruppe, es wären denn die Schauspieler gewesen, wurden so völlig um ihr mitgebrachtes Kapital geprellt, wie es den Schriftstellern geschah.“

Hilde Spiel: Psychologie des Exils, 433

Es mochte ja noch angehen, sich etwa der englischen Sprache zu bedienen, um einen Zeitungsartikel oder einen Aufsatz für eine Fachzeitschrift zu verfassen, aber konnte man als österreichischer Schriftsteller einen Roman in englischer Sprache schreiben? Man konnte, wie sich herausstellen sollte.

„Umso erstaunlicher ist der geglückte Versuch einiger Österreicher, ihre Romane nun in der fremden Sprache zu schreiben. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß sie zahlenmäßig die seltenen Versuche deutscher Autoren, auf englisch zu publizieren, übertreffen. Manche deutsche Autoren, die Wirtschaftsfachleute oder sonst durch ihren Beruf einer Fachsprache verbunden waren, die sie schon vor dem Exil kannten, haben politische und wirtschaftswissenschaftliche Fachbücher in englischer Sprache veröffentlicht, aber die Reihe von englischen Romanen österreichischer Autoren nimmt eine Sonderstellung ein. Das erstaunliche sprachlich-stilistische Niveau wurde auch von den zeitgenössischen englischen Rezensenten anerkannt. Aus der Feder österreichischer Schriftsteller ist eine einzigartige Romankunst entstanden, was sowohl den Stoff als auch seine sprachliche Bewältigung betrifft. Daß es sich dabei um die erste Gruppe von Romanen österreichischer Verfasser in englischer Sprache handelt, die im Zusammenhang gesehen werden sollte, ist ebenfalls zu beachten.“

Patsch 1985, 239 f.

Beispiele finden sich unter anderem bei Robert Neumann, Alfredo Bauer und Anna Gmeyner. Als trauriges Kuriosum ist hier anzuführen, dass dieser Sprachwechsel dazu beitrug, dass Autoren vergessen wurden. So erschienen zwei Romane von Hans Flesch-Brunningen in englischer Originalausgabe, wurden aber nie ins Deutsche übersetzt.

Nicht alle wollten oder konnten einen Sprachwechsel vollziehen, z. B. Theodor Kramer, Ernst Waldinger oder Berthold Viertel. Es ist schwer vorstellbar, dass Hermann Broch den Roman „Der Tod des Vergil“ selbst in englischer Sprache verfasst hätte, wo doch Stefan Zweig – zur Übersetzbarkeit des Werkes befragt – dies als unmöglich abtat. Der Roman wurde dann doch ins Englische übertragen, und zwar von Jean S. Untermeyer, die den Roman, noch während Broch daran schrieb, quasi simultan übersetzte. (vgl. Durzak 1967, 49 f.)

Für viele hat sich auch die Frage aufgedrängt, ob man in der Sprache der Nazis überhaupt noch schreiben könne, ob sie nicht für immer korrumpiert und zerstört sei. Das verschärfte den Konflikt, dem die Exilanten ohnehin ausgesetzt waren. Auf welcher Seite stand man?

„Denn für alle Exilanten gilt, was ich an letzter Stelle nennen möchte: Probleme der Loyalität, der Angst und schließlich, schlicht und schlechthin, des Heimwehs – Kernprobleme also, deren Bewältigung die psychischen Kräfte der Heimatlosen häufig überfordert hatten und darum zu Übersteigerungen, Verformungen oder Zusammenbrüchen Anlass gaben.

Schlimmer als körperliche Entbehrungen oder selbst Existenzsorgen waren, so meine ich, das gespaltene Bewußtsein, die schizophrene Geistes- und Gemütshaltung, unter denen, vor allem nachdem die Feindseligkeiten ausgesprochen waren, nahezu jeder der Emigranten litt. Was es nur hieß, den Krieg, dieses grauenhafte Übel, willkommen heißen zu müssen, weil sonst ein Schrecken ohne Ende in Aussicht stand. [?] Ein österreichischer Landwirt, aus Ekel vor dem Anbruch des Hitlerregimes nach England geflohen, faßte dies einmal in dem Seufzer zusammen, es hätte ihm nie geträumt, daß er einmal mit den Chinesen würde gegen die Tiroler kämpfen müssen.“

Hilde Spiel: Psychologie des Exils, 435 f.

Durch die Erfahrung des Exils änderte sich die Literatur radikal. Alles steht in Zusammenhang mit der neuen, bedrohlichen Lebenssituation. Und jene, gegen die man kämpft, beeinflussen die eigene Arbeit in einem so hohen Maße, dass man sich fragen muss, ob sie nicht trotz allem gewonnen haben. Es gab vorderhand zwei Wege, die von den Autoren häufig gewählt wurden. Einerseits der offene literarische Widerstand. Das eigene Schaffen wurde in den Dienst des Kampfes gegen den Faschismus gestellt. Andererseits der Rückzug in den historischen Roman und in forcierte ästhetische Experimente.

Kann man dem Schriftsteller einer moralische Verpflichtung zum literarischen Widerstand auferlegen? Und, vor allem, können wir Nachgeborene entscheiden, was denn nun ein angemessener Widerstand ist bzw. war? Ist das Verfassen historischer Romane eine Flucht oder eine Reflexion? Ist es wichtiger, die Poesie zu retten, oder sein Werk in den Dienst des politischen Kampfes zu stellen, und warum stellt man diese Frage überhaupt, als würden sich diese beiden Positionen ausschließen?

Selbstmord

An den Beispielen Stefan Zweig, Paul Celan und Jean Améry wird gezeigt, wie die Erfahrung des Exils und des Holocaust so tief in die Verzweiflung führt, dass der Freitod als einziger Ausweg erscheint.

Paul Celan befand sich bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Czernowitz. Er konnte nicht flüchten und wurde in einem rumänischen KZ interniert. 1948 kam er illegal von Ungarn nach Österreich, blieb einige Monate und ging dann nach Paris. Celan beging 1970 Selbstmord. Sein Freitod steht in ursächlichem Zusammenhang mit der Erfahrung der Internierung und des Exils.

Jean Améry flüchtete nach Belgien. Dort schloss er sich nach dem Einmarsch der Nazis einer Widerstandsgruppe an, wurde verhaftet, gefoltert, aus einem Konzentrationslager in das andere überstellt. Dem Tod entging er nur knapp. Mehr als dreißig Jahre später nimmt er sich während eines Aufenthalts in Österreich 1978 das Leben.

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Titel: Améry, Jean
Améry, Jean: - Rechtsansprüche konnten trotz aller Bemühungen nicht in allen Fällen ermittelt werden. Hinweise und Informationen bitte an die Projektleitung!
MalerIn/FotografIn: unbekannt

Stefan Zweig, damals wohl der international bekannteste lebende österreichische Schriftsteller, litt nicht unter Existenzsorgen, wie viele seiner weniger berühmten Kollegen. Aber er litt unter der Unmenschlichkeit der Nazis, daran, dass sie seine Hoffnung und seinen Glauben an die Menschen zerstörten. Er litt unter dem Krieg, selbst unter den Siegen der Alliierten, und er wusste, wie ausweglos das alles war. Er befand sich in Brasilien und war dort sehr populär. Die Regierung unterstützte ihn bei einem Buchprojekt über das Land. Als er die Nachricht erhielt, dass Singapur eingenommen worden war, dass das deutsche Afrikakorps zum Suezkanal vorstieß, wurde es für ihn unerträglich. Er hatte Bekannte gefragt, ob Brasilien nazistisch werden könnte, und zu seinem Schrecken eine positive Antwort bekommen. In so einer Welt wollte er nicht mehr leben. Gemeinsam mit seiner zweiten Frau beging er 1942 Selbstmord.

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Titel: Zweig, Stefan - Familiengrab Duschak
Familiengrab Duschak mit der Aufschrift Stefan Zweig (Schriftsteller), Döblinger Friedhof, Wien, Israelitische Abteilung. Unbekannt ist bisher, warum auf dem Grabstein bisher, die Namen der Brüder Alfred und Stefan Zweig aufscheinen (Informationen darüber bitte an die Projektleitung!)
MalerIn/FotografIn: Dr. Kurt Arrer
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Titel: Stefan Zweig 1939
Porträt Stefan Zweigs (Jänner 1939). Aus: Salzburger Nachrichten, Weihnachtsbeilage, 24.12.1991. Die Rechtsansprüche konnten trotz aller Bemühungen nicht in allen Fällen ermittelt werden. Sollten noch welche bestehen, bitten wir, sich mit der Projektleitung in Verbindung zu setzen.
MalerIn/FotografIn: unbekannt
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Titel: Zweig, Stefan auf Fahrt
Aus: Profil, 7.2.2000, S. 130. Die Rechtsansprüche konnten trotz aller Bemühungen nicht in allen Fällen ermittelt werden. Sollten noch welche bestehen, bitten wir, sich mit der Projektleitung in Verbindung zu setzen.
MalerIn/FotografIn: unbekannt

Ausblick

Bis heute existiert noch keine umfassende Darstellung der österreichischen Exilliteratur, wiewohl es zahlreiche Einzelstudien zu verschiedenen Autoren und Themenkomplexen gibt. Was österreichischen Autoren damals widerfuhr, geschieht heute weltweit Millionen von Menschen, jeden Tag. „Das Erlebnis des Heimatverlustes, der geduldeten Existenz in der Fremde, ist zweifellos eine Modellsituation der Gegenwart“, schreibt Hilde Spiel 1975, und das gilt wohl auch noch heute. Salman Rushdie und Taslima Nasrin sind die bekanntesten Autoren, die in ihren Heimatländern aufgrund ihrer Werke mit dem Tode bedroht sind. Aber es sind auch all jene unbekannten Millionen, die aus Angst ihre Heimat verlassen und in demokratischen Staaten Schutz suchen, die heute das Schicksal des Exils erleiden.

Axel Corti: Wohin und zurück: Santa Fee (Teil 2). Aus: Wohin und zurück: Santa Fé. Eine Gemeinschaftsproduktion von ORF ZDF SRG Hergestellt von Thalia-Film Ges.m.b.H., Wien vermutlich 1993, ORF2, Dauer: 0:16 min.

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Wenn die Genehmigungen vorliegen, wird die Information so schnell wie möglich zur Verfügung gestellt.

Anhang

Forschungsliteratur

  • Amann, Klaus - Die 'American Guild for German Cultural Freedom' und die 'Deutsche Akademie' im Exil (1935 - 1940)
  • Anders, Günther - Tagebücher und Gedichte
  • Betz, Albrecht - Exil und Engangement - Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre
  • Brinson, Chairmian; Dove, Richard (Hg.) - England, aber wo liegt es? - Deutsche und österreichische Emigranten in Großbritannien 1933-1945
  • Cernyk-Spatz, Susan E. - Spatz, Susan E. - German Holocaust Literature
  • Conter, Claude (Hg) - Literatur und Holocaust
  • DÖW, DSt. (Hg.) - Österreicher im Exil. 1934-1945
  • Dresden, Sem - Holocaust und Literatur
  • Durzak, Manfred - Hermann Broch
  • Eckert, Brita - Bedrohtes Exil
  • Feilchenfeldt, Konrad - Deutsche Exilliteratur 1933-1945
  • Holzner, Johann; Scheichl, Sigurd Paul; Wiesmüller, Wolfgang - Eine schwierige Heimkehr. Österreichische Literatur im Exil 1938 - 1945
  • Kiedaisch, Petra - Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter
  • Koebner, Thomas; Rotermund, Erwin - Rückkehr aus dem Exil - Emigranten aus dem Dritten Reich in Deutschland nach 1945
  • Koepken, Wulf; Winkler, Michael (Hg.) - Exilliteratur 1933- 1945
  • Krenn, Gerald - Alltag im Exil - Österreichische Autoren in den USA 1933- 1945
  • Kroehle, Birgit - Geschichte und Geschichten. Die literarische Verarbeitung von Auschwitz-Erlebnissen
  • Langer, Lawrence L. - Vision of survival - The Holocaust and the Human Spirit
  • Lorenz, Dagmar C. - Verfolgung bis zum Massenmord. Holocaust-Diskurse in deutscher Sprache aus der Sicht der Verfolgten
  • Mosler, Peter (Hg.) - Schreiben nach dem Holocaust
  • Muchitsch, Wolfgang - Österreicher im Exil, Großbritannien 1938-1945
  • Nieraad, Juergen - Engangement als ästhetische Radikalität - Schoa-Literatur zwischen Gelächter und Schweigen
  • Oellers, Norbert (Hg.) - Vom Umgang mit der Shoa in der deutschen Nachkriegsliteratur
  • Patsch, Sylvia M. - Österreichische Schriftsteller im Exil in Großbritannien
  • Pfanner, Helmut F. (Hg.) - Der Zweite Weltkrieg und die Exilanten. Eine literarische Antwort / World War II and the Exiles. A Literary Response
  • Portisch, Hugo - Österreich I - die unterschätzte Republik
  • Seyfert, Michael - Im Niemandsland. Deutsche Exilliteratur in britischer Internierung
  • Spalek, John M.; Bell, Robert F. (ed.) - Exile: The Writer´s Experience
  • Trapp, Frithjof - Deutsche Literatur zwischen den Weltkriegen II; Literatur im Exil
  • Walter, Hans-Albert - Albert - Deutsche Exilliteratur 1933 - 1950. Bd 2: Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis
  • Wille, Franz - "Du sollst dir kein bildnis machen?" - Die Darstellung des Grauens
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