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Kraus, Karl
*1874-04-28 Jicín (Nordostböhmen, CZ)
†1936-06-12 Wien (A)
Karl Kraus wurde als neuntes und letztes Kind des jüdischen Kaufmanns und Fabrikanten Jacob Kraus und dessen Frau Ernestine in Böhmen geboren. Schon im Alter von drei Jahren kam K. nach Wien. Von 1892 bis 1896 besuchte er das Franz-Josephs-Gymnasium. Danach belegte er Vorlesungen an der juridischen, dann an der philosophischen Fakultät in Wien. Sein Interesse galt vor allem der zeitgenössischen Literatur und dem Theater.
Im Jänner 1893 missglückte ein Versuch, sich als Schauspieler (Franz Moor in Schillers "Die Räuber" im Rudolfsheimer Volkstheater) zu profilieren. Seine Lesungen aber, in denen er z. B. aus Werken von Detlev von Liliencron und Arno Holz sowie "Die Weber" von Gerhart Hauptmann vortrug, fanden großen Anklang.
Schon mit seiner ersten satirischen Publikation "Die demolirte [!] Literatur" (1897) - eine Anspielung auf den Abbruch jenes Hauses, in dem das Café Griensteidl untergebracht war, wo sich die Schriftsteller des "Jung Wien" trafen - stellte der 22jährige K. seine spitze Feder und seinen treffenden Witz unter Beweis. 1898 griff er mit "Eine Krone für Zion" nicht nur Theodor Herzl, den Begründer des Zionismus, an, sondern auch den Zionismus selbst. Herzl war Mitarbeiter der von K. heftig kritisierten "Neuen Freien Presse", die K. als Ausdruck des der Korruption verfallenen liberalen Bürgertums verstand und später in seiner Zeitschrift "Die Fackel" häufig attackierte.
Am 12. Oktober 1899 trat er aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus, da er in der Assimilation die einzige Chance des Judentums sah, und ließ sich 1911 taufen - Adolf Loos war sein Taufpate. Nach dem Ersten Weltkrieg verließ er die katholische Kirche wieder. Anlass war die Uraufführung von Hugo von Hofmannsthals Mysterienspiel "Das Salzburger Große Welttheater" bei den Salzburger Festspielen 1922. K.s sehr kritisches Verhältnis zum Judentum lässt sich nicht mit dem Schlagwort "jüdischer Selbsthass" abtun, sondern ist Teil seines kulturphilosphischen Konzeptes, in dem K. den unzertrennlichen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Geldwirtschaft und Judentum konstruiert. K. wandte sich aber vehement gegen den Antisemitismus der Nationalsozialisten.
Am 1. April 1899 erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift "Die Fackel", die K. bis 1936 herausgab. Ab 1912 bis zu seinem Tod verfasste er alle Beiträge selbst. Schon die erste Nummer brachte einen überwältigenden Erfolg. Nach wenigen Wochen waren 30.000 Exemplare verkauft. "Die Fackel" sollte sich zu einer der bedeutendsten kritischen und satirischen Zeitschriften des 20. Jahrhunderts entwickeln. Die Gesamtausgabe umfasst etwa 21.000 Seiten. In den ersten Jahren deckte K. in seiner Zeitschrift immer wieder Skandale auf. Ein guter Teil des Erfolges dürfte auf diesen Enthüllungsjournalismus zurückzuführen sein, den K. professionell betrieb. Von den unzähligen Prozessen, die gegen ihn angestrebt wurden, verlor er die wenigsten. Aus einer Zeitschrift, die Korruption, Machtmissbrauch, Doppelmoral und völkische Ideologie bekämpfte, machte K. ein satirisches Organ, das verstärkt auch Ideologie- und Sprachkritik pflegte. Die schärfste Waffe von K.s Satire war das Zitat und die "Glosse".
1902 griff er in "Sittlichkeit und Kriminalität" den doppelbödigen Umgang der Gesellschaft moralischer Vorstellungen an. Mit "Heine und die Folgen" (1911) kritisierte K. den instrumentellen Umgang der zeitgenössischen Literatur mit der Sprache. Wie um den Kontrast deutlich zu machen, begann er 1916 mit dem "Theater der Dichtung", in dem er dramatische Texte in voller Länge rezitiert und las u.a. Shakespeare, Goethe, Raimund, Nestroy und Jacques Offenbach. Damit versuchte er auf das Sprachbewusstsein früherer Zeiten hinzuweisen und gegen die Sprachlosigkeit seiner Epoche anzukämpfen.
Der entscheidende Einschnitt in Ks. Leben war der Erste Weltkrieg. Selbst für den Kriegsdienst untauglich, musste er mit ansehen, wie viele seiner Freunde umkamen; unter ihnen Georg Trakl, der nach einem Selbstmordversuch am 3. November 1914 im Militärspital Krakau starb. K. stellte sich auf die Seite der Opfer dieses Krieges, klagte die Kriegshetzer und deren Büttel an und entlarvte sie mit bissigem Spott. Auch mit der Kriegsbegeisterung einiger seiner Schriftstellerkollegen, z. B. mit Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Ganghofer, Alfred Kerr, Ottokar Kernstock oder mit der Autorin und Kriegsberichterstatterin Alice Schalek, rechnete K. auf dem Papier ab.
In seinem Drama "Die letzten Tage der Menschheit" (1919) zeichnet er ein umfassendes Bild des Krieges im Hinterland und an der Front. Das einem "Marstheater" zugedachte Drama spannt den weiten Bogen vom Begräbnis des ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand und dessen Frau bis zu den apokalyptischen Dimensionen des Epilogs "Die letzte Nacht", in dem z. B. der Herausgeber der "Neuen Freien Presse" als Herr der Hyänen auftritt und die gesamte Menschheit vom Mars ausgelöscht wird. Formal vereinen "Die letzten Tage der Menschheit" verschiedene Genres und Stile, die verschiedenartige Inszenierung ermöglichen: Dokumentartheater, Revue und Kabarett, expressionistischer Stil und an Shakespeare mahnende Monologe und Dialoge (z. B. Optimist und Nörgler). Zahlreiche Entwicklungen des modernen Theaters werden vorweggenommen.
Nach dem Ersten Weltkrieg beeinflusst K. maßgeblich das literarische Leben im deutschsprachigen Raum. Er war es, der Franz Werfel zuerst förderte und dann verstieß. In politischer Hinsicht musste er erkennen, dass "Die letzten Tage der Menschheit" noch nicht vorbei waren, sondern gerade erst begannen. In den 1920er Jahren kennzeichneten drei große Fehden K. öffentliches Wirken. In einer spektakulären Plakat-Aktion zwang er den Boulevard-Journalisten Imre Békessy, Wien zu verlassen. Gegen Békessy sei der Herausgeber der Presse ein Monument an Integrität, höhnte K. Weniger Erfolg war ihm bei seiner Attacke gegen den Polizeidirektor Johann Schober beschieden. Schober war dafür verantwortlich, dass bei einer Arbeiterdemonstration am 15. Juli 1927 und dem daraus resultierenden Brand des Justizpalastes 90 Tote und 600 Verletzte zu beklagen waren. Schober wurde 1929 österreichischer Bundeskanzler und später Außenminister der Ersten Republik.
"Mir fällt zu Hitler nichts ein." Dieser erste Satz in "Die dritte Walpurgisnacht" wird häufig zitiert, um Ks. Schweigen gegenüber dem Nationalsozialismus zu belegen. Dabei wird unterschlagen, dass sich K. schon in den 1920er Jahren gegen die "Hakenkreuzottern" zur Wehr setzte und dass dem berühmten Satz einige hundert Seiten der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus folgen. Das geplante "Fackel"-Heft "Dritte Walpurgisnacht" wurde von K. aber zurückgezogen, da er Freunde in Deutschland nicht in Gefahr bringen wollte, und erschien erst posthum 1952.
Engelbert Dollfuß, jenem österreichischen Bundeskanzler, der die Erste Republik durch die autoritäre Maiverfassung des Jahres 1934 in einen ständestaatlichen Bundesstaat umwandelte, bezeichnete K. einmal als das kleinere Übel gegenüber Hitler, dann wieder als integeren Staatsmann. Diese politische Einschätzung von wurde K. v. a. von seinen linken Kritikern angekreidet. "Die Fackel" Nr. 890-905, in der sich K. zu dieser Problematik äußert, kostete ihm die Sympathie Bert Brechts und Walter Benjamins. Seine Anhänger im Lager der Sozialdemokratie wandten sich von ihm ab. Doch K. blieb bei seiner Position. Die Ermordung von Dollfuß im Juli 1934 im Zuge eines nationalsozialistischen Putschversuches traf den kranken K. dementsprechend schwer.
"Die Fackel" erschien über einen längeren Zeitraum nicht. Seine Vorlesungen, die von Gegnern gestört wurden, verlegte K. in den privaten Bereich. Im April 1936 fand die 700. Vorlesung statt. Schon seit der Vorkriegszeit hatte K. konsequent seine immens wirkungsvolle Vortragskunst entwickelt, die viele in den Bann zog, z. B. Elias Canetti. Am 12. Juni 1936 starb K. an einem Herz- und Gehirnschlag.
Bearbeitet von Wilhelm Kuehs, Klagenfurt.
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Bohn, Volker:
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(Akad. Verl. Ges. Athenaion, 1974)
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Bähr, Rudolf:
Grundlagen für Karl Kraus' Kritik an der Sprache in nationalsozialistischen Deutschland
(Böhlau, 1977)
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(Juris, 1972)
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(Passagen, 2000)
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(Hain, 1992)
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