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KAPITEL

1. Fred Wander: Kurzbiographie
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2. "Der siebente Brunnen"
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3. "Ein Zimmer in Paris"
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4. Hôtel Baalbek
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5. "Das gute Leben - Erinnerungen"
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6. Anhang
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Wilhelm Kuehs:
Fred Wander (1917)


So unterschiedlich die vier Freunde, Gerson, Grünberg Baptiste und der Ich-Erzähler Jossl auch sind, ihr Leben ist durch Entwurzelung und Flucht bestimmt. Im Grunde haben sie nie aufgehört davonzulaufen und umherzuirren, auch als die Bedrohung durch die Nationalsozialisten längst vorbei war. Ihre Lebensentwürfe zerfallen in einzelne Episoden, die vordergründig wenig miteinander zu tun haben. Das verbindende Element ist ihre Freundschaft, die aus der Flucht, der Vertreibung entstanden ist. Sie bildet den Motor der Erinnerungsarbeit, der unablässig Bilder produziert auch dann, wenn sich die Figuren ihrer überdrüssig wähnen.

Alle vier versuchen sich in einem sogenannten bürgerlichen Leben, brechen aber immer wieder aus. Gersons Mystik, Baptists Erotomanie und Grünbergs Wahnsinn sind unterschiedliche Ausprägungen ein und derselben Haltung. Es ist der Versuch, das wahre Leben zu finden, zurück zu erlangen, was ihnen von ihren Verfolgern genommen wurde.

Wenn sie zusammen sind, können sie den Schrecken für eine Zeit bannen, einander stützen. Das bohemehafte Leben verspricht Erlösung, weil es sich über bürgerliche Schranken hinwegsetzt, Zwänge ignoriert. Wenn Baptiste und der Ich-Erzähler in einem Café sitzen und die vorbeiziehende Menge betrachten, sich fragen, wer dieser oder jene wohl ist, dann nehmen sie sich aus dem Getriebe der Welt heraus und sind für diesen Moment unantastbar. Die Obsession des Ich-Erzählers ist es, diese Geschichten, eigentlich zahllose Fragmente, festzuhalten. Dafür wird er von den anderen für verrückt gehalten, auch weil er glaubt und hofft, sich durch das Erzählen befreien zu können. Denn der Erzähler tritt einen Schritt zurück, um den Gegenstand seines Interesses genauer betrachten zu können. Dabei werden nicht nur die sehr unterschiedlichen Schicksale seiner Freunde erzählt, sondern auch unzählige andere Geschichten aus einer jüdischen Vergangenheit, die durch den Holocaust zerstört wurde.

In einem zentralen Punkt gleichen sich aber alle Geschichten. Die Vertreibung und die Internierung haben das frühere Leben der Flüchtlinge zerstört, aber auch nach dem Krieg lässt sich für die NS-Opfer kein völliger Neuanfang realisieren. Günther Anders fasste diesen Zustand 1962 in Post Festum zusammen:

"Kennzeichnend für uns ist nicht, daß unser Leben durch ein (unerinnerbares) Intermezzo eine Unterbrechung erfahren hat, sondern daß die Zerfällung unseres Lebens in mehrere Leben endgültig geworden ist; und das heißt, daß das zweite Leben im Winkel vom ersten absteht, und das dritte wieder vom zweiten, [?] Nach jeder Knickung wurde das der Knickung vorausliegende Stück Leben unsichtbar." (Anders 1985, 71)

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