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KAPITEL

1. Exil und Sprache
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2. Sprachwechsel - Übersicht
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3. Fallbeispiele
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4. Mehrsprachigkeit - Literarisches Übersetzen: Hilde Spiel - Paul Celan
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5. Anhang
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Primus-Heinz Kucher:
Sprachreflexion - Sprachwechsel im Exil


"... bis zum 1. Vaduz-August klafft eine Lücke, die ließe sich verzürchern, vielleicht alemannisieren wir dann gemeinsam den Gedichtzyklus von Jacques Dupin?" (Celan, Brief an F. Wurm, 28.3. 1968; Celan-Wurm: BR, 136)

Wurm, Franz zeigen
Wurm, Franz zeigen

Celans übersetzerische Tätigkeit in Paris begann mit Auftragsarbeiten, die allerdings tiefere Spuren hinterlassen werden. Es handelte sich dabei vor allem um Emile M. Ciorans "Précis de décompositions" (1949), die 1953 unter dem Titel "Lehre vom Zerfall" auf Deutsch erschienen und die Celan im engen Kontakt mit dem Philosophen erstellte. Celan begegnete in Cioran nicht nur eine faszinierende, ihn auf Adorno und später auf die russische Literatur hinführende intellektuelle Gestalt (Ivanovic 1997, 21); Cioran hatte zum Zeitpunkt dieses Aufeinandertreffens bereits eine Erfahrung gemacht, die Celan in den darauf folgenden Jahren in verwandter Weise wiederholen wird: den Sprachwechsel vom Rumänischen, Ciorans Muttersprache, ins Französische, dem bei Celan die ständige Bewegung zwischen dem Deutschen und Französischen bei weitgehender "Aufgabe" des Rumänischen entspricht. Dieser Arbeit folgte 1954 die Übertragung des surrealistischen Stückes von Pablo Picasso "Le désir attrapé par la queue" (1944/45) über die deutsche Besatzung in Paris (GW IV, 8-63). Im selben Jahr legte Celan die erste Übertragung eines Gedichts von G. Appollinaire vor. Ab 1957/1958 erschienen dann Übertragungen von nahezu allen Klassikern der französischen Moderne: von Arthur Rimbaud über Stéphan Mallarmé hin zu René Char und Henri Michaux. Claude David hat mit Bezug auf diese Übersetzungsleistung Celan u. a. als "plus grand poète francais de langue allemand" (David, 1970, 239) charakterisiert.

Cioran, Emile zeigen
Nin, Anais zeigen
Borges, Jorge Luis zeigen
Adorno, Theodor W. zeigen
Adorno, Theodor W. zeigen
Adorno, Theodor W. zeigen
Picasso, Pablo zeigen
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Apollinaire, Guillaume zeigen
Rimbaud, Arthur zeigen
Rimbaud, Arthur zeigen
Rimbaud, Arthur zeigen
Mallarmé, Stéphane zeigen
Char, René zeigen
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Die von Celan gelebte Mehrsprachigkeit bildete nicht nur eine wesentliche Voraussetzung für das Übersetzen; sie floss in eine ? wenngleich paradox formulierte - eigene Poetologie des Übersetzens als Konfrontation und Gespräch mit dem an sich Unübersetzbaren ein, wie es das bekannte Absagediktum an die Zweisprachigkeit - "Dichtung ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache" (Celan, 1961 GW III, 175) - formuliert, aber wie es auch, unter bestimmten Voraussetzungen, die "Meridian-Rede" (1960), wieder zurücknimmt und wie es in der wechselseitigen Begegnung zwischen eigenem Werk ("Die Niemandsrose") und jenem Osip Mandel'stams (Mandelstamms), dem wichtigsten in der Gruppe der von Celan übersetzten russsischen Lyriker (A. Blok, S. [J]Esenin, Jewtuschenko, Chlebnikow, Slutschewskij), sichtbar zum Ausdruck kam.

Chlebnikow, Welemir zeigen
Blok, Alexander zeigen
Jessenin, Sergej zeigen
Jewtuschenko, Jewgeni zeigen

Die Begegnung mit dem Werk des russischen Dichters verstand Celan als ein Auffinden eines "Weggefährten" (Lütz, 1999, 23). Sie führte zu einem Radio-Essay Celans über ihn und fand Eingang in die Büchner-Preis-Rede "Der Meridian" (1960). Über diese Begegnung soll Celan gesagt haben: "Die Übertragung von Mandelstam ins Deutsche halte ich für eine nicht weniger wichtige Aufgabe, als meine eigenen Gedichte." (zit. Naiditsch, 1999, 99). Diese intensive Zuwendung, diese Weggefährtenschaft hat ihren Ursprung und Grund sowohl in den poetologischen Maximen - "Unterwegs sein der Sprache, das Wort als 'Bündel', der Sinn, der nach verschiedenen Seiten daraus hervorragt" (Woronescher Hefte, 1935-37) - als auch im dramatischen Lebensschicksal des russischen Lyrikers, der bekanntlich nach Jahren der Exilierung in einem stalinistischen Lager umgekommen ist und damit ein Schicksal teilt, das jenem der Shoah strukturell verwandt war. Als Beispiel dafür gilt die Übersetzung des Gedichts "Diese Nacht", das Mandel'stam 1916 verfasst und das den Tod der Mutter zum Thema hat. In Celans Übertragung sei "das Gedicht Mandelstamms kaum noch zu erkennen" (Lütz, 1999, 31). Dennoch gilt diese Übertragung geradezu als Modell dafür, wie dieser poetologische Dialog zwischen Sprachen und Zeiten sowie über Abgründe hinweg realisierbar wird/wurde, indem Celan Mandelstams Maxime vom 'Wort-Sinnbündel' ernst nimmt und die Kontextveränderung zwischen der Entstehungszeit (1916) und der Übertragungszeit (1958/59) in eine schärfere Konturierung des Wortmaterials durch Satzzeichen, durch veränderte Rhythmik (die das ursprüngliche Schlaflied in ein stakkatoartiges Verrechnen des Wahrgenommenen verwandelt) und durch elliptische Formen fasst. Denn zwischen den erwähnten Jahreszahlen liegt die Erfahrung der Shoa, der Tod der Mutter im Massenmord - und das Exil.

Mandelstamm, Osip zeigen
Mandelstamm, Osip zeigen

Mandelstam Osip - Celan Paul: Diese Nacht

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