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KAPITEL

1. Joseph Roth - Romancier und Journalist
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2. Das Fragment Emigration
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3. "[...] da Gott die Juden vor Sünde bewahrt hat und da Er ihnen Glück durch Unglück beschert"
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4. Anhang
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Markus Kreuzwieser:
Davidstern und Kreuz. Joseph Roths ungewöhnliches Fragment Emigration (1937)


Für die Juden unter ihnen "könnte [...] der Satz gelten: Gott wohnt sehr hoch, und man erinnert sich Seiner erst, wenn es einem ganz schlecht geht. Es sind dies Emigranten, die eigentlich die Noblesse, die diesem Begriff impliziert ist, dementieren." Roth meint, dass es "keinen Sinn" hätte, "über sie zu sprechen, wäre nicht die Tatsache, daß sie Kinder haben, Brüder, Vettern, die von ihnen leben." "Der größte Teil der jüdischen Handel treibenden Kleinbürger wäre", so heißt es im Text, "ohne den Judenboykott freilich in Deutschland geblieben, und viele von ihnen sind auch dahin zurückgekehrt. Jüdische Bankiers, die vor dem Anbruch des Dritten Reiches sich nicht nur damit begnügten, den Nationalsozialismus für "gar nicht so schlimm" zu halten, sondern auch durch direkte und indirekte Geldzuwendungen sich eine gute Note bei den zukünftigen Machthabern zu sichern versucht haben, haben auch heute noch nicht aufgehört, an die Rückkehr nach Deutschland zu denken." Und dies ist für Roth "tragischer, irriger Sinn, ja [...] Sinnesverwirrung!"

Da nun "im Ausland" das "Geschäft" "schlimmer oder weniger gut" gehe als in Deutschland, "vermischt sich auf eine seltsame Weise der Geschäftssinn mit dem Patriotismus, und der Handelsgeist bekommt Heimweh. Jede Emigration hat ihre widerlichen Erscheinungen. Widerlicheres aber als diese deutschen Geschäftstreibenden hat bis jetzt wohl keine gehabt. Trotz ihrem ganzen Heimweh kaufen sie kubanische Pässe, peruanische Staatsbürgerschaften, und während sie sich schon vorbereiten, den neuen Vaterländern die Steuer zu hinterziehen, weinen sie deutsche Tränen auf die neuen Pässe und Identitätskarten. Sie sind der Absud der Emigration. Obenauf schwimmen sie - sichtbar -, und da sie Geld einzubringen versprechen, den Gastländern weniger unangenehm als Proletarier, Gelehrte, Künstler und Schriftsteller. Es gelingt ihnen, in ihrem Heimweh ebenso heimisch zu sein wie in ihrer Gaststätte. Und gäbe es eine Möglichkeit für Behörden, jene Maßstäbe der Sauberkeit, der Gesinnung auf die Aufenthaltsbewilligung anzuwenden, die wir uns wünschen, so wäre es angemessen, ihre Austreibung zu fordern." (Joseph Roth 3, 764)

Im Gegensatz zu den russischen Emigranten der Revolutionszeit hätten die deutschen Exilanten des Dritten Reichs "kein Gold, keine Juwelen, keinen Besitz im Ausland [...]." Hunderttausende, die auswandern wollten, hätten sich nicht einmal eine Fahrkarte bis zur Grenze kaufen können. So ist es für Roth ein Gebot der "Gerechtigkeit, auch die in Deutschland verbliebenen Hunderttausende der Emigration zuzurechnen". Man könne sich "den Zustand eines Menschen, der ausgewandert und im Land geblieben ist - zu gleicher Zeit -, nicht vorstellen."

"Von einigen süddeutschen - insbesondere bayrischen oder rheinländischen - Deutschen hört man, daß sie ihre Hoffnung auf das einzige noch freigebliebene deutsche Land setzen, nämlich Österreich. Auf die bleibende Selbständigkeit dieses Landes hoffen sie." (Joseph Roth 3, 764)

Mit diesem Satz schließt bzw. bricht das Manuskript, ein Fragment (?), ab.

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