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KAPITEL

1. Verfolgung, Vertreibung und die Germanistik
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2. 'Anschluss' in Wien, Emigrationsbedingungen
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3. Flüchtlingsland USA
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4. Literatur als Erinnerung und Heimat
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5. Literaturwissenschaft als Mahnung und Bewahrung
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6. Anhang
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Beatrix Müller-Kampel:
Germanistik als Erinnerung, Mahnung und Heimat. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada


Die Tschechoslowakei beispielsweise, die bislang einen vergleichsweise freien Zugang geboten hatte, schloss mit 11. März 1938 ihre Grenzen hermetisch ab. Die im August beim Innenministerium in Prag vorliegenden Einreisegesuche beliefen sich auf über 100.000, von denen allerdings nur solche genehmigt wurden, in denen tschechoslowakische Staatsangehörige um die Einreise für ihre Eltern bzw. Kinder nachgesucht hatten. (vgl. Großmann 1969, 48) Frankreich hatte die im Februar 1938 zustandegekommene neue Völkerbundkonvention für Flüchtlinge aus Deutschland zwar unterzeichnet, aber keineswegs in Kraft gesetzt. Entgegen früheren Gepflogenheiten wurde nur wenige Tage nach dem 'Anschluss' österreichischen Flüchtlingen an der französischen Grenze ein Visum abverlangt. (vgl. Walter 1984, 88)

Die Schweiz war schon vor 1938 jenes europäische Land gewesen, das gegen die Exilierten und Emigranten aus Hitlerdeutschland die härtesten Vorschriften erlassen und sie auch ohne alle Rücksichten praktiziert hatte. (vgl. Walter 1984, 165) Großbritannien (es hatte bis 1938 von allen demokratischen Staaten prozentual die wenigsten Emigranten aus Hitler-Deutschland aufgenommen (vgl. Walter 1984, 112 f.) und die Annexion Österreichs mit schärferen Aufnahmerestriktionen beantwortet als andere Asylstaaten, vgl. Sherman 1973, bes. 87-89) hatte bei der Konferenz von Evian zugestimmt, die Restriktionsbestimmungen für temporäre Flüchtlinge zu lockern. (vgl. i. d. F. London 1989, 30 f.) Nachdem daraufhin bis Kriegsausbruch die Zahl der Vertriebenen im Land von 11.000 auf 78.000 (90% davon Juden) gestiegen war, doch auch abzusehen war, dass die wenigsten davon (entgegen ihrem Status als 'Transitflüchtlinge') das Land verlassen würden können, startete man ein 'Remigrationsprogramm'. In dessen Verlauf mussten allein 1940 an die 10.000 Vertriebene weiterziehen (die meisten davon in die USA), 8.000 wurden als "enemy aliens" deportiert - fast alle davon nach Kanada oder Australien. Von den 33 nach Evian eingeladenen Nationen stammten 20 aus Lateinamerika. (vgl. Metz 1992, 134 und i.d.F. Blancpain 1991, 165-179)

In Argentinien, das bis zum Ersten Weltkrieg eine relativ liberale Immigrationspolitik verfolgt hatte, verschlechterten sich die Asylbedingungen durch starke nationalistische Strömungen. In Bolivien schürte während des Zweiten Weltkriegs der »Movimiento Nacional Revolucionario« den Antisemitismus, um einen Sündenbock für die Folgen der Depression zu bieten; für Ecuador musste jeder Flüchtling den Nachweis eines Depots über mindestens 400 US-Dollar erbringen (von manchem Konsul wurde aber auch in einzelnen Fällen ein Kapital von bis zu 5.000 Dollar zur Bedingung gemacht, vgl. Walter 1984, 367); und Chile schloss 1939 seine Grenzen für Flüchtlinge aus NS-kontrollierten Gebieten überhaupt. Generell forciert wurde die Erteilung von 'Landwirtschaftsvisa' - Genehmigungen, welche den Flüchtling verpflichteten, an Landansiedlungsprogrammen teilzunehmen oder Dschungelgebiete urbar zu machen. Letztlich jedoch kam fast die gesamte lateinamerikanische Einwanderung aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei auf dem Wege der Korruption zustande. (vgl. Walter 1984, 306) Ganz gleich, an welches Land die Flüchtlinge sich wandten - ihre Lage glich jener des Ertrinkenden, wie ihn Alfred Polgar im "Prager Tagblatt" vom 18. September 1938 schildert:

Polgar, Alfred zeigen

"Ein Mensch wird hinterrücks gepackt und in den Strom geworfen. Er droht zu ertrinken. Die Leute auf beiden Seiten des Stroms sehen mit wachsender Beunruhigung den verzweifelten Schwimmversuchen des ins Wasser Geworfenen zu, denkend: wenn er sich nur nicht an unser Ufer rettet." (zit. nach Lützeler 1973, 61)

Ein zumindest fürs erste rettendes Ufer zu erreichen gelang schließlich rund 430.000 Juden (150.000 davon aus Österreich). (vgl. Strauss 1982, XV) So mag wohl für alle Transit- und Aufnahmeländer sowie die späteren Befreierstaaten gelten, was Walter H. Sokel über die Schweiz äußert: "Und wenn man heute auf die Schweiz schlecht zu sprechen ist, so sage ich immer: 'Ich bin ein Verteidiger der Schweiz. Ich verdanke der Schweiz mein Leben.'" (Sokel 1974, 46)

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