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KAPITEL

1. Einleitung
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2. Zur Vorgeschichte
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3. "Anschluss" - literarische Pogromstimmung
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4. Verlauf und Richtung der Exilbewegung
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5. Zeitschriften des Exils
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6. Anhang
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Konstantin Kaiser:
Österreichische Exilliteratur im Überblick


Der organisierte Massenmord, dessen wahre Ausmaße allmählich erahnbar wurden und in erste literarische Texte einfloss (Paul Celan, Michael Hamburger, Nelly Sachs, Berthold Viertel) , war ohne die tätige und stillschweigende Teilnahme ungezählter Deutscher und Österreicher nicht vorstellbar. Nicht mehr das Hitlerregime und seine verblendeten Parteigänger allein waren in diese Verbrechen verwickelt, sondern auch große Teile des Volkes, dem man bis dahin zugute gehalten hatte, auf ebenso bestialische wie infame Weise vergewaltigt worden zu sein. Waren die meisten Exilierten zuvor in ihren Wünschen und Zukunftsvorstellungen noch hingespannt auf eine Heimkehr nach dem Krieg, entschieden sie sich nun endgültig zum Verbleib im Gastland oder zu einer Weiteremigration in ein drittes Land. Eine Periode der Assimilation und mitunter geglückten Integration begann.

Es wäre noch von einem weiteren Bruch der Perspektive zu reden, der in das Lublin-Gedicht Theodor Kramers gewissermaßen schon eingetragen ist: vom Beginn des Kalten Krieges (1948) und von dem darauf folgenden raschen Erlahmen der Anstrengungen, die "Schinderknechte" einer gerechten Verurteilung zuzuführen. Die engagierte Anteilnahme, mit der die Exilierten die Entwicklung im Nachkriegsösterreich verfolgten, dissoziierte mit den Jahren in eine oft sentimentale Anhänglichkeit an die österreichische Landschaft (man denke nur an einige der Österreichgedichte Erich Frieds 1944-46), aber auch zu einer resigniert-ernüchterten Einschätzung der Bewohner des Landes auf der anderen Seite (so z. B. H. Spiel im Tagebuch 1946 über ihren ersten Wienaufenthalt nach Kriegsende). Diese Dissoziation scheint allerdings in zahlreichen literarischen Manifestationen des Exils der 1940er Jahre bereits vorgeformt. So trauerte etwa ein Ernst Waldinger in vielen seiner Exilgedichte den verlorenen Orten seiner Kindheit und Jugend nach, dem "Bauerngarten in Niederösterreich", dem Regen in den Alpen, den Narzissenwiesen von Aussee, dem Schwimmbad in Sauerbrunn, Orte, die Waldinger freilich nicht platt, ansichtskartenmäßig fasst, sondern poetisch, als Lebens- und Bewegungsräume der Verwirklichung des Menschlichen gestaltet. Und zugleich erklärt er stolz, dass er das wahre Österreich, gekennzeichnet durch Verehrung der Vernunft, Menschenfreundschaft, Duldung, mit sich "hierher ins neue Land" genommen habe, und dieses vielgeliebte Wien "nimmermehr in Wirklichkeit besteht", mag es auch einer, der dageblieben ist und es vorgezogen hat, den neuen Herren zu dienen, in der naiven Überzeugung seiner objektiven Realität nach wie vor durchschreiten. (vgl. Waldinger 1946, 24 f.)

"In der Inselhitze von Manhattan/ Wo das Hemd mir feucht am Leibe klebt/ [...] Denk ich an der Bauernstuben Kühle/ Einer Ferienzeit zurück ..." (E. Waldinger, Die kühlen Bauernstuben, 1939; 1990, 60)

Die Exilgedichte Waldingers, die im heutigen Österreich auf wenig Verständnis (trotz oder gerade wegen der leichten Verständlichkeit, die sie aufgrund ihrer kalkulierten Konventionalität anbieten), sind den im Exil gealterten Flüchtlingen gleichwohl verständlich und nahe geblieben. Dennoch darf die Differenz zwischen der Haltung Waldingers und dem späteren resigniert-ernüchterten Rückzug vom 'Projekt Österreich' nicht übergangen werden. Noch sieht sich Waldinger als Vertreter des "wahren", des anderen, wirklichen Österreich - eine Stellungnahme, die uns in ähnlicher Weise vom deutschen Exil bekannt ist, von der oft verzweifelt vorgetragenen Beteuerung, dass es doch ein "anderes" Deutschland gebe, geben müsse als das der "Richter und Henker", der Nazis und ihrer Schergen. Die Literatur des Exils, die auch im Zeichen der Enttäuschung vom Nachkriegsösterreich ab den 1950er Jahren entstanden ist, bezieht sich, zumindest was die Gattung Lyrik, betrifft, weniger auf das besondere Schicksal Österreichs als auf die unfassbar scheinenden Verbrechen des Nationalsozialismus, deren Schrecken durch den zeitlichen Abstand, durch die zwischen die Zeit der Vernichtung und die Gegenwart gelegten Jahre des Überlebens, nicht gemildert, worden sind. Im Gegenteil, oft haben sie an emotionaler Wucht und plastischer Schärfe nur gewonnen. In den Gedichten einer Stella Rotenberg (die in England lebt) oder eines Fritz/Frederick Brainin (der in New York verstorben ist) ist die Gegenwart immer nur eine dünne Schicht, eine Tünche über der Vergangenheit, und diese Schicht kratzen sie in ihren Gedichten immerzu auf. (vgl. Rotenberg 1991 und Brainin 1990) Auch wird ihnen die existentielle Situation des Exils selbst, Heimatlosigkeit, Verlassenheit, Einsamkeit, immer mehr zum Thema, zur Qual, von der sie sich nicht losreißen können.

Waldinger, Ernst zeigen

Stella Rotenberg

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