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KAPITEL

1. Jura Soyfer: Das Dachaulied
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2. Theodor Kramer: Der Ofen von Lublin (22.8. 1944)
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3. Fred Wander: Der Siebente Brunnen. Erzählung
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4. Fred Wander: Gesichter (Kap. XI). In: Der siebente Brunnen. Erzählung (1972)
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5. Anhang
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Herbert Staud:
Holocaust und Literatur


Bevor Sie Ihre Arbeit beginnen, bieten wir Ihnen folgende Möglichkeiten an, sich zusätzlich zu informieren und zu orientieren: Studieren Sie unsere Vorlesung (Porträt) über den Schriftsteller Fred Wander. Vergegenwärtigen Sie sich die textanalytische Einheit zum Thema "Erzählen". Sie haben aber auch die Möglichkeit, sich Ihrer Interpretationsarbeit vorerst dadurch zu nähern, dass Sie nach der Lektüre von "Gesichter" jene Aufgaben zu lösen versuchen, die wir Ihnen im Anschluss an Ihre Lektüre anbieten.

XI. Gesichter

"Um fünf Uhr früh war der Wald von Reif bedeckt. Aber um acht schon floss der Spuk davon, tropfte, ergoss sich in metallisch klingenden Bächen. Funkelnde Kristalle auf jedem Ast, die Luft geschwängert von Frühling. Aus den Hütten stieg hellblauer Rauch. Es krachte in den Eisdecken, murmelte aus allen Löchern, regte sich in der Borke, ließ die Würmer an die Oberfläche kommen und Humus aufwühlen, nicht mit Panzern, aber mit der sanften Gewalt einer alles umfassenden Bewegung, die, hätte man sie ballen können, die ganze Erde aufgespalten hätte wie einen reifen Kürbis.

Ein Kampf des Wachstums gegen Erstarrung, der Blutströme gegen Schlacken, der weißen Phagozyten gegen Viren, der Hoffnung gegen den Tod. März 1945. Fünftausend Häftlinge marschierten in Richtung Ost. Dieser versteckte, blindwütige und hartnäckige Kampf in jedem von uns und in jeder Zelle unseres Körpers (Durchhalten, Kinder! Mensch reiß dich zusammen. Ne te laisse pas tomber, c'est la fin de la guerre!), dieser unauffällige Kampf hätte einen Goya inspirieren können: Protuberanzen unbeugsamer Lebenskraft! - Aber gleichzeitig hätte man sagen können: Seht sie euch an, welch ein kläglicher Haufen. Sind das noch Menschen?

An den Füßen Holzschuhe, die mancher bald wegwarf auf dem langen Marsch, weil sie Wunden rieben, ein Zementsack am Körper unter der Jacke und fest unter den Arm geklemmt ein Stück Brot. Wir hatten Brot gefasst, jeder ein Kilo Brot, beim Verlassen des Lagers. Natürlich wussten wir, das mochte für die nächsten vier bis sieben Tage alles sein! Und die meisten verschlangen das Brot sofort. Der Körper vergeudete nichts, er hatte das bessere System, jeden Tropfen Wasser und jedes Korn zu verteilen und zu speichern. Die Gesichter der Männer waren fast unkenntlich geworden. Von Bartstoppeln, Flechten, Wunden und Schwellungen entstellt. Was für Gesichter! Sie hatten längst alle Fettpolster des Alltags, der Gleichgültigkeit und Selbstzufriedenheit verloren, waren gezeichnet von Entbehrung und Leid. Manche Augen schwammen noch in einem Kranz winziger Fältchen, von Lachen gezogen, noch sah man vereinzeltes Blitzen von Schlauheit und Witz. Aber weggeblasen war die Leere des Wohlergehens, die Glätte ruhiger Tage, die feisten Backen langer Perioden der Sattheit. Ein hartes Gesetz der Auslese hatte die körperlich und seelisch Schwächeren hinweggerafft. Wer jetzt noch auf dem Marsch war, hatte hundert Proben bestanden. Und trotzdem - der achtzig Kilometer lange Weg zurück nach Buchenwald war gesäumt von Toten, die oft noch zuckten, wenn wir sie sahen."

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