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KAPITEL

1. Die politische Natur und Tradition des Widerstandsbegriffs
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2. Positives Recht und Naturrecht
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3. Die romantische Frage nach dem Widerstand der Poesie
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4. Fragwürdige Darstellbarkeit des Zeitgenossen
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5. Parallelität von politischer und ästhetischer Neuorientierung
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6. Weltanschauliches Engagement und ideologische Skepsis
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7. Nachkriegssituation
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8. Differenz und Übereinstimmung zwischen Exil- und Widerstandsliteratur
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9. Anhang
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Konstantin Kaiser:
Literatur und Widerstand


?Die Partei übernimmt die Funktion der bisherigen Gesellschaft [...9 Die Partei ist allumfassend [...] Es ist daher notwendig, daß wir Gliederungen entwickeln, in denen sich das ganze Einzelleben abspielen muß. Jede Tätigkeit und jedes Bedürfnis wird demnach von der durch die Partei vertretenen Allgemeinheit geregelt [...] Es gibt keine freien Räume, in denen der Einzelne sich selbst gehört. Das heißt Sozialismus [...]? (Rauschnings. In: Heger, Petzold, Storm-Knirsch 1976, 179 f.)

Einem Denken freilich, das in dem alten Gegensatz von Individualismus (= Liberalismus) und Kollektivismus (= Sozialismus) befangen war, musste entgehen, ?daß die Widersprüche des Kapitalismus in Deutschland auf einem höheren und deshalb auch gefährlicheren Niveau wirksam sind, auch wenn diese Widersprüche durch einen bürokratischen Apparat und durch die Ideologie der Volksgemeinschaft verdeckt werden? (Neumann, 136). Die nationalsozialistische ?Ordnung? stößt, was sich ihr nicht fügt, brutal ab. Sie steigert Widersprüche, die sonst im Leben einen vorübergehenden Ausgleich finden, ohne ganz zu verschwinden, zum ausschließenden Gegensatz, der keine Vermittlungen, nur mehr völlige Unterordnung oder entschiedene Auflehnung zulässt. Zumindest ist das die Tendenz, die in dem Terror gegen alles nicht systemkonforme Verhalten zum Ausdruck kommt. Der Terror reißt zwischen denen, die Widerstand leisten und denen, die sich fügen, einen Abgrund auf. Zugleich zwingt er die, die sich nur vorläufig, nur äußerlich gefügt haben, in die Anonymität: Nichts von ihrer eigentlichen Gesinnung darf nach außen dringen; zwischen ihr inneres (geistiges) und äußeres (mechanisches) Leben baut die Unterdrückung eine Schranke der Selbstzensur auf.

Dieselbe scharfe Unterscheidung zwischen systemkonformem Verhalten und dem, was der Mobilisierung der Bevölkerungen für die Kriegsziele widerspricht (und sei es nur disfunktional), findet auf die Literatur Anwendung. Der Gegensatz von Exilliteratur und ?Literatur im Reich? ist sichtbarer Ausdruck der zum Antagonismus verschärften Widersprüche des sozialen Lebens. Literatur, die soziale und geschichtliche Zusammenhänge aufdeckt oder auch nur an den demokratischen und humanistischen Überlieferungen des Bürgertums festhält, hat Platz nur im Exil oder im Untergrund (vgl. Mayer, 20 ff.). Das Exil ist keine partikuläre, eher zufällige Erscheinung, sondern eine notwendige Folge der Struktur und der Zielsetzung des NS-Staates. Wenn sich daher Auswirkungen der konkreten Exilsituation auf das Schaffen der Schriftsteller im einzelnen nachweisen lassen, so darf doch umgekehrt nicht vergessen werden, dass die Exilsituation als ganze Ausdruck des durch den Faschismus verwirklichten Gesellschaftszustandes war. Durch die Probleme des Überlebens im Exil hindurch sind es in letzter Instanz die durch diesen Gesellschaftszustand aufgeworfenen Probleme, mit denen sich die emigrierten Schriftsteller in ihrem künstlerischen Schaffen, ob sie wollen oder nicht, auseinandersetzen müssen. Das Exil ist aber nicht nur etwas, was der NS-Staat einem Teil seiner Opfer aufgezwungen hat, sondern auch eine Antwort der Literatur auf den NS-Staat: Es ist unter den Bedingungen faschistischer Unterdrückung für viele die einzige Möglichkeit, ihr Nicht-Einverständnis zu demonstrieren und öffentliche Anklage gegen die faschistischen Machthaber zu erheben. Mit dieser Anklage verhält es sich ebenso wie mit dem Widerstand der österreichischen Arbeiter im Februar 1934: Was zunächst aussichtslos erschien, hat in weiterer Folge entscheidend dazu beigetragen, das Regime seiner Pseudolegitimität zu entkleiden, es zu isolieren und diskreditieren, den Vormarsch des Faschismus nicht fatalistisch hinzunehmen, sondern eine Haltung bewusster Auflehnung gegen diesen ?Gang der Dinge? einzunehmen.

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