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KAPITEL

1. Biographische Daten und Kontexte
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2. Hilde Spiel - Die hellen und die finsteren Zeiten - Erinnerungen 1911 - 1962
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3. Hilde Spiel - "Der kleine Bub Desidere" - Frühe Erzählungen
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4. Hilde Spiel - "Kati auf der Brücke", 1933
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5. Hilde Spiel - "Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation"
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6. Hilde Spiel - "Lisas Zimmer"
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7. Hilde Spiel - "Welche Welt ist meine Welt?"
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8. Hilde Spiel - "Rückkehr nach Wien" - Ein Tagebuch
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9. Anhang
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Wilhelm Kuehs:
Hilde Spiel (1911-1990)


"Ach, der liebe Herr! Wie schad, dass er weg ist. Na, dem geht's wenigstens gut, der hat sich viel Kummer erspart. Gnä' Frau was wir mitgemacht haben! Und wie geht es dem lieben Herrn Papa?" "Er ist tot", sagte ich. Sie fängt an zu jammern. Ihr einziger Sohn ist in Russland vermisst. Was für ein Kreuz das war, dieser Krieg. Und was die Nazis in Österreich angerichtet haben. "Wer wohnt jetzt in unserer Wohnung?" Ihre Lippen kräuseln sich verächtlich. "Einer aus'm Lager, der zurückgekommen ist. Löwy heißt er. Wenn sie wüssten, wie's jetzt ausschaut drin! Kommunisten haben ihn einigsteckt. Sie haben ja keine Ahnung, was die Russen uns alles angetan haben." "Wer war der frühere Mieter?" "Dr. Keller. Der ist im goldenen Westen. Vor den Russen nach Salzburg davon. Wird schon wissen, warum. Ein Parteimitglied. Hat sich rechtzeitig abgesetzt, und wir sind in der Tinte!" [...] Vage fällt mir ein, dass sie wohl auch zu den Nazis gehörte. Oder nicht? Es ist mir gleichgültig. Die Kleinlichkeit dieser Menschen ist entscheidender als jede Parteizugehörigkeit, noch zwingender jedoch sind ihre Leiden - hoffnungslos und rührend, unlösbar und unerlöst. (Spiel, 1996, 40 f.)

Aber auch andere Erinnerungen an Wien tauchen auf, an ihre Großmutter Melanie z. B., die später im KZ Theresienstadt starb, und an Döbling. Es ist das Wien der zwanziger und dreißiger Jahre, das Hilde Spiel zwischen all dem Schutt sucht und eben nur mehr in Bruchstücken findet. Diese ihre Welt ist ein für alle Mal zerbrochen; der Krieg und der Terror der Nationalsozialisten haben diese österreichische Kultur vernichtet, die Hilde Spiel schon früh mit dem Anflug jener Verklärung wahrnahm, die mit Schlagworten wie Habsburgermythos und Goldenes Zeitalter der Kaffeehausliteratur besetzt werden sollte.

Aber es waren nicht nur die Stadt, das Land und die Menschen, die in ihm lebten, korrumpiert. Hilde Spiel litt damals schon längst unter dem Exil als Krankheit, wie sie es 1975 in ihrem Aufsatz "Psychologie des Exils" formulieren sollte. Schon damals muss sich eine Erkenntnis vorbereitet haben, die sich unter anderem auch in dem Titel ihres zweiten autobiographischen Bandes "Welche Welt ist meine Welt?" ausdrückt, und die sie in dem oben erwähnten Aufsatz so formulierte: "Aber ich meine ganz ernsthaft, dass die Kluft zwischen Daheimgebliebenen und den Ausgewanderten sich nie wieder völlig schließt." (Spiel 1976, 439)

Zwischen Sentimentalität und Verbitterung bewegen sich die Begegnungen mit alten Bekannten und Freunden. Manche wie Anna, eine Dienstbotin der Familie, haben sich in Spiels Augen die Unschuld mehr oder weniger bewahrt. Andere, wie der Oberkellner Hnatek, eine Kultfigur des Café Herrenhof, und ihr Bekannter Stefan B. nicht. Sie prangert jenen Opportunismus, jene Feigheit an, die auch Intellektuelle dazu gebracht hat, sich mit dem Regime zu arrangieren. Diese Anbiederung, dieses Mitläufertum, diese zutiefst österreichische Haltung des "es sich richten" hat maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der Nationalsozialismus durchsetzen konnte, und Spiel spricht dies offen aus.

"[...] Aber wer in Österreich, außer früheren Häftlingen der Konzentrationslager, den Leichen ihrer Kameraden in den Massengräbern und jenen 'Unterseebooten', die am Leben geblieben sind, wer außer den sechshundert Widerstandskämpfern, die aufgehängt und geköpft wurden und einigen tausend mehr, die man nicht entdeckte - ist nicht ebenso betroffen? [...] Stefan, so meine ich, kann keine Schuld vorgeworfen werden, außer dass er weder zum Helden noch zum Opfer geboren war. Indem er nicht den Kopf verlor und der Ideologie der Nazis so weit widerstand, wie es in seiner Kraft lag, hat er sicherlich mehr Gutes gewirkt als Schlimmes verbrochen. Hätte ihn andererseits seine klare Sicht und vollständige Erkenntnis des Übels, das über das Land gekommen war, nicht dazu bewegen sollen, sich vom öffentlichen Leben, zumindest von der exponierten Stellung eines Journalisten zurückzuziehen?" (Spiel 1996, 78 f.)

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