zurück zum Inhaltsverzeichnis

KAPITEL

1. Die politische Natur und Tradition des Widerstandsbegriffs
anzeigen

2. Positives Recht und Naturrecht
anzeigen

3. Die romantische Frage nach dem Widerstand der Poesie
anzeigen

4. Fragwürdige Darstellbarkeit des Zeitgenossen
anzeigen

5. Parallelität von politischer und ästhetischer Neuorientierung
anzeigen

6. Weltanschauliches Engagement und ideologische Skepsis
anzeigen

7. Nachkriegssituation
anzeigen

8. Differenz und Übereinstimmung zwischen Exil- und Widerstandsliteratur
anzeigen

9. Anhang
anzeigen

 

Konstantin Kaiser:
Literatur und Widerstand


Die Diskussion um das Widerstandsrecht und die Pflicht zum Widerstand durchzieht die bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Unsere gegenwärtigen Auffassungen von Widerstand sind nach wie vor durch dieses Erbe von Aufklärung, Französischer Revolution und Naturrechtsphilosophie geprägt.

Widerstand ist hier zum einen primär stets politischer Natur, weil er sich gegen politische Maßregeln richtet: Befehle der Obrigkeit, Übergriffe der Polizei oder anderer bewaffneter Organe, staatliche Gewalt und richterliche Willkür. Daraus folgt, dass die persönlichen und privaten Motive derjenigen, die Widerstand leisten, nicht das Kriterium für die Entscheidung über den politischen oder bloß bürgerlich-privaten Charakter ihres Handelns sind. Dieses Moment ist der Träger des zunächst kunstfeindlichen Charakters von Widerstandstheorien und -traditionen: Was zählt, ist das Resultat, die vollbrachte Widerstandshandlung, nicht der Prozess, aus dem es hervorgeht. Die individuelle und kulturelle Genesis des Widerstands bleibt ausgeblendet. Man betrachte unter diesem Gesichtspunkt die Exposition von Friedrich Schillers "Jungfrau von Orleans". Der persönliche Entschluss der Johanna, in den Kampf gegen die englisch-normannische Fremdherrschaft über große Teile Frankreichs einzutreten, wird zunächst aus eher kleinlichen familiären Ränken - Diskussionen über die Zurückhaltung Johannas, in eine Ehe einzuwilligen - entwickelt, die dann völlig in den Hintergrund treten. Schiller fühlte, dass er ein Resultat, die Entscheidung der Johanna, sich für Frankreich aufzuopfern, in der künstlerischen Gestaltung des Stoffes nicht zum Ausgangspunkt der Handlung machen konnte. Doch die familiär-private und die öffentlich-politische Sphäre bleiben fortan geschieden.

"Jeanette, deine Schwestern machen Hochzeit,/Ich seh sie glücklich, sie erfreun mein Alter:/ Du, meine Jüngste, machst mir Gram und Schmerz" (Prolog, 2. Auftritt, Thibaut [Vater Johannas]) [...] "Es geschehen noch Wunder - Eine weiße Taube/Wird fliegen und mit Adlerskühnheit diese Geier/Anfallen, die das Vaterland zerreißen ..." (Prolog, 3. Auftritt, Johanna)

Zum anderen ist Widerstand sekundär politischer Natur, weil er einen Zusammenschluss von Gleichgesinnten erfordert und damit eine politisch strukturierte Öffentlichkeit in der Widerstandsgruppe schafft, sei diese nun eine Untergrundzelle, eine Bürgerinitiative, eine Wählervereinigung oder ein Demonstrationszug. In dieser Öffentlichkeit des Widerstandes kann sich der Bürger als "zoon politikon" verwirklichen. Für viele skeptisch ernüchterte und zugleich nach neuen Faszinationen suchende Denker des 20. Jahrhunderts ist es bezeichnend, dass sie solche politisch strukturierte Öffentlichkeiten wie politische Parteien oder Versammlungen als massenpsychologische Phänomene zu deuten suchen.

Der Widerstand greift ein in ein hierarchisches Gefüge der Über- und Unterordnung, nicht unbedingt, um dieses Gefüge umzudrehen oder gar aufzuheben, sondern um einem offenbaren Unrecht entgegenzutreten, die Aufhebung eines ungerechten Urteils zu erzwingen. So gesehen, zielt Widerstand zunächst weniger auf den Umsturz des Bestehenden, sondern auf die Korrektur einer verfehlten Maßregel.

S. 1/14 vorherige Seite - nächste Seite

  

IMPRESSUM | 2002 © UNIVERSITÄT SALZBURG