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KAPITEL

1. Begriffsbestimmung und Bedingungen des Exils
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2. Von der Dauer des Exils
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3. Sprache
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4. Selbstmord
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5. Ausblick
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6. Anhang
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Wilhelm Kuehs:
Exil - Aspekte und Kontexte


"Selektion, es sollte eine Selektion geben, Frauen von 15 bis 45 sollten sich zu einem Arbeitstransport melden, antreten in einer bestimmten Baracke, zu einem bestimmten Termin. Es gab welche, die konstatierten, bislang sei es immer noch schlimmer, nie besser geworden, und sich dementsprechend vor der Selektion drückten, nicht antraten. Meine Mutter war anderer Meinung. Schlimmer als hier könne es nicht werden. Die Alternative sei das Leben. Doch das Wort Selektion hatte in Auschwitz einen bösen Klang. Man konnte keineswegs sicher sein, daß es wirklich eine Selektion für ein Arbeitslager und nicht eine für die Gaskammer war. Arbeitslager war logisch, denn warum sonst die Altersgrenzen? Andererseits war Logik nicht das Grundprinzip dieser Ortschaft.

Meine Mutter hat von Anfang an im Vernichtungslager richtig reagiert. Weil sie sofort verstand, was hier gespielt wurde, hatte sie nach unserer Ankunft den Freitod für uns beide vorgeschlagen, und als ich mich weigerte, hat sie den ersten und einzigen Ausweg wahrgenommen. Doch ich meine, es war nicht die Vernunft, sondern ein tiefsitzender Verfolgungswahn, der sie so reagieren ließ. Psychologen wie Bruno Bettelheim meinen, ein ausgeglichener, vernünftiger Mensch, der nicht durch eine bürgerliche Erziehung verdorben worden ist, müßte sich an einem auschwitzartigen Ort auf die neuen Verhältnisse umstellen können. Ich denke da anders. Ich glaube, dass Zwangsneurotiker, die von Paranoia gefährdet waren, in Auschwitz am ehesten zurechtkamen, denn sie waren dort gelandet, wo die gesellschaftliche Ordnung oder Unordnung, ihre Wahnvorstellungen eingeholt hatte. Wer den Verstand nicht verlieren will, hat deshalb recht, weil der Verstand als die menschliche Eigenschaft schlechthin uns so lieb sein muß wie die Liebe. Doch in Auschwitz konnte die Liebe nicht retten und der Verstand auch nicht. Von daher weiß ich, daß es keine unbedingten Rettungsmittel gibt, und unter den bedingten Rettungsmitteln kann auch Paranoia sein. Meine Mutter, die sich vorher und besonders nachher noch öfters verfolgt geglaubt hat, war dieses eine Mal im Recht und hat sich ganz folgerichtig verhalten.

Aber der Preis ist zu hoch: Dieser Wahnsinn, den sie latent mit sich herumträgt wie einen schlafenden Kater, der sich nur gelegentlich streckt, gähnt, Buckel macht und sanft herumstreicht, plötzlich mit den Zähnen klappert und sich mit ausgestreckten Krallen einen Vogel greift, nachher wieder schlafen geht - so ein Raubtier möchte ich nicht in mir tragen, auch wenn es mir im nächsten Vernichtungslager das Leben retten könnte." (Klüger 1992, 127 f.)

Klüger, Ruth zeigen
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Klüger, Ruth: Thema: Theresienstadt KZ (Ruth Klüger) zeigen
Klüger, Ruth: Thema: Zwangsarbeit im KZ (Ruth Klüger) zeigen
Klüger, Ruth: Interview. Literatur als Überlebensmittel im KZ zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über schwierige und gescheiterte Vergangenheits-Aufarbeitung zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über "weiter leben", Wiener Neurosen, Gedichte zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Verdrängungen in ganz Europa zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Vortrag von Leo Beck zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über Wien als sprachliche "Heimat" ... zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Gedichte schreiben zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über den Adorno-Satz über Gedichte nach Auschwitz ... zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Außenseitererfahrung, Immigrantin in USA zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Hoffnung und Untätigkeit zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über das Erzählen über den Holocaust und Flucht (Kinder) zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Judentum und Religion, Mendelssohn zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über das eigene Judentum, über eigene Sozialisation, Biographie zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Kinder im KZ, Kindheit zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Verbote für jüdische Kinder, Schiller-Balladen, Uhland-Gedichte zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über den Besuch von Gedenkstätten ... zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über die Kraft der Kunst für das Überleben - "Eskapismus" zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über den problematischen Deutschen Martin Walser zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über den "Sinn" der KZs - Über die Funktion des Leidens zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über die eigentlichen Opfer (6 Millionen Tote der Shoa) zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Primo Levi: KZ als "seine Universität" zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Über die Vaterstadt Wien - Über ihren Vater ... zeigen
Klüger, Ruth: Interview: Auschwitz als Zufall - Wien als Schicksal zeigen
Klüger, Ruth: Interview: 1938 - Wien als judenfeindliche Stadt zeigen

"Und doch hat alles anders ausgesehen. Aus dem Vernichtungslager kommend, schaute ich auf die normale Landschaft hinaus, als sei sie unwirklich geworden. Auf dem Hinweg hatte ich sie nicht gesehen, und jetzt lag das Land, von dem die Schlesier noch heute schwärmen, in Postkartenanmut so friedlich da, als hätte die Zeit stillgestanden und ich käme nicht direkt aus Auschwitz. Radfahrer auf stillen Landwegen, zwischen sonnenbeschienen Feldern. Ich sehnte mich dahinaus. Die Welt hatte sich nicht verändert, Auschwitz war nicht auf einem fremden Planeten gewesen, sondern eingebettet in das Leben da vor uns, das weitergegangen war wie vorher. Ich grübelte über die Inkongruenz, daß diese Sorglosigkeit im selben Raum existierte wie unser Transport. Unser Zug gehörte doch zu den Lagern, zu der Eigenständigkeit und Besonderheit der Lagerexistenz, und da draußen war Polen, oder Deutschland, Oberschlesien, wie immer benannt, Heimat für die Menschen, an denen wir vorbeifuhren, Ort, an dem sie sich wohlfühlten. Das von mir Erlebte hatte die da draußen nicht einmal berührt. Ich entdeckte das Geheimnis der Gleichzeitigkeit als etwas Unergründliches, nicht ganz Vorstellbares, verwandt mit der Unendlichkeit, Ewigkeit.

Unser Zug fuhr an einem Ferienlager vorbei. Da war ein Junge, von weither gesehen, der eine Fahne geschwungen hat, Geste der Bejahung der Lichtseite des Systems, an dessen blutverschmierter, kotiger Unterseite man uns entlangschleifte. Soviel Helle, wie konnte das sein?" (Klüger 1992, 143 f.)

"In der deutschen Bevölkerung war der Judenhaß unterschwellig geworden, brodelte aber weiter, wie ein Ragout in einem Kochtopf guter Qualität eine Weile weiterbrodelt und warm bleibt, nachdem die Herdflamme längst abgedreht wurde. Wie hätte es anders sein können? Die Überlebenden erinnerten durch ihr bloßes Dasein an das Vergangene und Begangene. Vielleicht fürchtete man, die Mißhandelten könnten sich rächen, oder man dachte, wir seien wie die geschlagenen, und daher bissigen, Hunde fürs Zusammenleben mit Menschen untauglich geworden. Wer draußen in der Freiheit gewesen war, glaubte leicht und ohne sich viel Rechenschaft darüber zu geben, nur Kriminelle hätten die KZs überlebt; oder diejenigen, die dort kriminalisiert worden seien. Was wiederum im Widerspruch stand zu der hartnäckigen und ebenfalls verbreiteten Überzeugung, die KZs seien nicht so schlimm gewesen, dafür seien wir, die sie überlebt hatten der beste Beweis. Ehre den Toten, den Lebenden eher Misstrauen." (Klüger 1992, 193 f.)

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Die "Krankheit des Exils", wie Hilde Spiel schreibt, ist ein chronischer Zustand, er wird nicht durch die Rückkehr in die ehemalige Heimat beendet. Die Kluft zwischen denen, die fortgegangen sind und jenen, die zurückblieben, ist letztlich unüberbrückbar. Hilde Spiel behauptet auch, dass das Exil als Krankheit vererbbar sei, und meint das gar nicht als Metapher. Sie schildert den Fall einer Familie, die nach England ins Exil ging. Die Kinder wuchsen dort auf.

"Als ihre Eltern nach dem Kriege, wie nie anders geplant, zurück in ihre Heimat fuhren, wurde das Weltbild der Kinder mit einem Mal spiegelverkehrt. Sie waren damals fünfzehn und siebzehn. Das jüngere Mädchen ertrug die Verpflanzung nicht. Sie erhängte sich, ja sie erhängte sich eines Tages in einem Pensionat. Ihr Bruder ging später nach England zurück und heiratete ein englisches Mädchen." (Hilde Spiel: Psychologie des Exils. In: Neue Rundschau, Jg 86/1975, S.438 f.)

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