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KAPITEL

1. Biographische Daten und Kontexte
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2. Hilde Spiel - Die hellen und die finsteren Zeiten - Erinnerungen 1911 - 1962
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3. Hilde Spiel - "Der kleine Bub Desidere" - Frühe Erzählungen
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4. Hilde Spiel - "Kati auf der Brücke", 1933
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5. Hilde Spiel - "Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation"
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6. Hilde Spiel - "Lisas Zimmer"
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7. Hilde Spiel - "Welche Welt ist meine Welt?"
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8. Hilde Spiel - "Rückkehr nach Wien" - Ein Tagebuch
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9. Anhang
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Wilhelm Kuehs:
Hilde Spiel (1911-1990)


Die politische Situation war schon am 24. Juni 1948 auf einem Tiefpunkt angekommen. Die Sowjets unterbrachen den Interzonenverkehr in das von den Westmächten besetzte Berlin. Berlin lag damals inmitten der Sowjetischen Besatzungszone, und nur das spätere Westberlin wurde von den westlichen Alliierten verwaltet. Die Sowjets wollten durch diese Wirtschaftsblockade auch den zweiten Teil der Stadt unter ihren Einfluss bekommen. Mittels einer Luftbrücke, die beinahe ein Jahr aufrecht blieb, wurde Westberlin mit Lebensmitteln und Rohstoffen versorgt. Dieser Konflikt sollte für die Spaltung Europas in einen demokratischen Westen und einen von der Sowjetunion kontrollierten, kommunistischen Osten verantwortlich werden. Die NATO und der Warschauer Pakt werden sich bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion (1989) unversöhnlich gegenüberstehen. Am 13. August 1961 wird die Berliner Mauer errichtet, das sichtbare und symbolische Zeichen des Eisernen Vorhangs.

Hilde Spiel kontrastiert in ihren Aufzeichnungen Historisches und Persönliches, und zeichnet so eine Atmosphäre des Belagerungszustandes, wie sie durch die Auflistung der Fakten nicht vermittelbar ist. "In Berlin sind die ersten Anzeichen einer Belagerungshysterie zu merken, obwohl die westlichen Alliierten alles tun, um die Bevölkerung vor einer Panik zu bewahren. "[?] Unser kleiner Sohn ist krank, [?] Am 28. Juni setzen die Sowjets weitere Daumenschrauben an. Im Westsektor wird die Elektrizität gedrosselt, die Rationen werden gekürzt. Doch an diesem Abend musiziert Yehudi Menuhin (1916, New York) zum ersten Mal wieder in Deutschland mit Furtwängler und den Philharmonikern im Titaniapalast." (Spiel, 1990, 94)

Furtwängler, Wilhelm zeigen

Von Wien kommt Hilde Spiel aber trotz aller Aufregung in Berlin nicht los. "[?] süchtig wie eh und je nach der Vaterstadt. [...]" (Spiel 1990, 41) ist sie. "Dreimal, vor dem endgültigen Weggang von Berlin, fahre ich noch nach Österreich." (Spiel 1990, 53)

Aber Wien wird ihr schon 1948 wieder ziemlich verleidet. Die Wirtschaft beginnt sich nach der Währungsreform zu stabilisieren, die junge aufstrebende Kultur nicht. Die Zeitschrift der "Plan" wird eingestellt, kleine Verlage geben auf. Auch Hilde Spiel hat Schwierigkeiten mit ihrem Wiener Verleger. Er lehnt ein Manuskript mit jüdischen Themen und Bezügen ab, dazu sei es noch zu früh. Ähnliche Erfahrungen mussten auch andere Autoren machen. Deutsche und österreichische Verleger scheuten auch nach dem Krieg und dem Ende der Naziherrschaft davor zurück, Texte mit explizitem Bezug zum Judentum zu veröffentlichen. Die Begründung war immer dieselbe und fadenscheinige: Die Zeit sei noch nicht reif dafür, das könne man dem Publikum nicht zumuten.

Aber diese persönliche Erfahrung war es gar nicht, die Hilde Spiel so verstörte. Es war der Umstand, dass sich niemand in diesem neuen Österreich um die Förderung der Intellektuellen und Künstler zu kümmern schien. Während des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus war der Großteil der österreichischen Intelligenz, Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler, vertrieben worden. Alle Machthaber in Österreich haben "immer dem Niveau der Agrarbevölkerung Rechnung getragen." (Spiel 1990, 56) Die österreichische Kultur der Jahrhundertwende und der Ersten Republik war fast unwiederbringlich verloren. Das erfüllte Hilde Spiel mit Wehmut und mit Zorn und nur die kleinen Nischen rund um Zeitschriften wie "Der Monat" oder "Neues Österreich" (vgl. Strickhausen, 1999, 98) vermochten dies ein wenig abzumildern.

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