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KAPITEL

1. Verfolgung, Vertreibung und die Germanistik
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2. 'Anschluss' in Wien, Emigrationsbedingungen
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3. Flüchtlingsland USA
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4. Literatur als Erinnerung und Heimat
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5. Literaturwissenschaft als Mahnung und Bewahrung
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6. Anhang
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Beatrix Müller-Kampel:
Germanistik als Erinnerung, Mahnung und Heimat. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada


Walter H. Sokel erschien die Entscheidung für das Studium der deutschen Literatur mitunter wie ein Verrat:

"Als ein die deutschsprachige Literatur Studierender fühlte ich mich moralisch verdammt, pervers und absurd erscheinend, Verräter nicht nur an der jüdischen Gemeinschaft, der ich durch Familie und Geburt angehörte, sondern an der Menschheit, gegen die sich der von Deutschen und Österreichern verübte mehrfache Genozid unvergebbar versündigt hatte. Als die Nachrichten des höllischen Grauens tagtäglich immer dichter zu uns kamen, erfaßte mich tiefes Schuld- und Schamgefühl. Wie konnte ich mich rechtfertigen? Wie konnte ich es rechtfertigen, die Sprache zu lehren, in der die Vernichtung meiner Tanten, meiner Kusinen, und, wäre er nicht am Abend vor der Deportation einem Herzinfarkt erlegen, meines Vaters beschlossen und ausgeführt worden war? Gab es einen Verrat, der schlimmer schien als die Vermittlung und damit in gewisser Weise die Unterstützung einer Kultur, die solch unvorstellbares Grauen ermöglicht hatte?" (Sokel 1998, 40)

Sokel, Walter Herbert zeigen

Möglicherweise wurzelte die persönliche Motivation des germanistischen Interesses auch in einem Bedürfnis nach innerer Kontinuität über die Zäsur hinweg. (vgl. Hoffmann 1994, 27) Ebensowenig, wie deutsche und österreichische Ideengeschichte in toto der NS-Kulturideologie einzufügen waren, ließen sich die nun auf dem Felde der Germanistik tätigen jüdischen Vertriebenen das nehmen, was ihnen kulturelle Heimat gewesen war: das Interesse an und die Liebe zur Literatur. "Diese Liebe", so Walter H. Sokel, "nahm ich über den Ozean mit in die amerikanische Emigration, wo sie durch Nostalgie vertieft noch intensiver wurde. Ich empfand Amerika zunächst als wahre Fremde, in der ich im echtesten Sinn des Schlagwortes 'verfremdet' lebte. Und da war Österreich, vermittelt durch seine Literatur, eine versunkene Heimat, von der ich aber selbst eigentlich immer schon ausgeschlossen gewesen war". (Sokel 1990, 23)

Die analysierende Erinnerung an Literatur, Philosophie und Kunst, geübt und vorgebracht in einer (vielfach auch von Eltern und Freunden) geächteten Sprache, begehrt dagegen auf, neben den ermordeten Verwandten und Freunden und dem geraubten Besitz auch noch all das zurücklassen zu müssen, worin man kulturell, ideell und emotional heimisch zu werden begonnen hatte. "Man konnte uns aus Österreich vertreiben, aber man konnte Österreich nicht aus uns vertreiben," versichert Herbert Lederer. (1990, 130) "Und was fing ich in der Neuen Welt an?" fragt Peter Heller mit nahezu sarkastischem Unterton. "Ich hielt fest - aus Trägheit, früher Gewöhnung, Liebe? - an dem mir Vertrauten, quasi Eigenem: studierte Musik (Klavier) und Literatur, vornehmlich deutsche, auch Geistesgeschichte und Komparatistik [...] Ich hielt fest an der Muttersprache oder wurde von ihr festgehalten." (Heller 1990, 68) Harry Zohn gewahrt rückblickend ähnliches an sich wie Stella Hershan: "Trotz meiner weitgehenden Amerikanisierung besann ich mich in zunehmendem Maß auf meine Muttersprache und die mir sozusagen entwendete (aber nicht entfremdete) Kultur." (Zohn 1990, 6) Argwohn und Zweifel beschleichen Ruth Klüger, wenn sie sich ihres Wegs in die Germanistik besinnt. Weil einige ihrer Auschwitz-Gedichte im selben Band mit Exil-Gedichten von Heinz Politzer erschienen waren und der prominente Germanist sie empfohlen hatte, bot das German Department in Berkeley ihr eine Assistentenstelle an:

Lederer, Herbert zeigen
Zohn, Harry zeigen
Klüger, Ruth zeigen
Klüger, Ruth zeigen

"Wenn ich schlecht gelaunt bin, ist mir das nicht recht, denn ich werde den Verdacht nicht los, daß dieser Beruf für eine wie mich eine Charakterlosigkeit ist. Als wäre ich dadurch in die Schuld der Deutschen geraten. Dann sage ich mir wieder, mit der eigentümlichen Logik, die nur unserem unverläßlichsten geistigen Organ, dem Gewissen, zugänglich ist, daß ich andererseits keinen Antrag auf 'Wiedergutmachung' gestellt habe [...] Das befriedigt mich. Merkwürdiges Soll und Haben, Aufrechnung, Abrechnung. Ich bin den Deutschen nichts schuldig, sage ich mir dann, sie eher mir. Denn sinngemäß hätte ich ja mein verspätetes Germanistikstudium durch einen solchen Zuschuß mitfinanzieren können. Es ist auch so gegangen. Wenn ich gut gelaunt bin, sehe ich eine poetische Richtigkeit, wenn nicht Gerechtigkeit, darin, daß gerade von diesen Gedichten der Weg zu meinem passend-unpassenden Beruf geführt hat. Daß sich da ein Ring geschlossen hat." (Klüger 1992, 199 f.)

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