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KAPITEL

1. Die literarische Bedeutung Berthold Viertels
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2. Jüdische Herkunft
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3. Jugendlicher Ausbruchsversuch und Rückkehr
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4. Berthold Viertel und Karl Kraus
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5. Republikanismus, Weimarer Republik
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6. Theaterkonzeption, Kultur und Zivilisation, Rotes Wien
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7. Berthold Viertel und der Sozialismus
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8. Die Stellung zur Österreich-Frage
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9. Literarische Strategien
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10. Das Verhältnis zum Exil
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11. Die Stellung innerhalb des deutschsprachigen Exils in den USA
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12. Die Nachkriegssituation
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13. Der "Reichskanzleistil"
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14. Die spätere Theaterauffassung
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15. Zur Rezeption des literarischen Werks
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16. Anhang
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Konstantin Kaiser:
Berthold Viertel (1885-1953)


Mit einem Stück, Brechts "Furcht und Elend des Dritten Reiches", setzte er sich gleich dreimal auseinander. Noch im April 1939 begann er in London mit der Einstudierung der Szene "Der Spitzel" - sie wurde nach seiner Abreise bei der ersten öffentlichen Veranstaltung des "Freien Deutschen Kulturbundes in Großbritannien" gespielt. 1942 folgte eine szenische Aufführung in New York. 1945 sprang er für Erwin Piscator bei der Inszenierung von "The Private Life of the Master Race", der englischen Version von Brechts Szenenfolge, ein. Leseaufführungen waren Ferdinand Bruckners "Die Rassen", Goethes "Faust II" (die Schlussszenen) und Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit" ("Die letzte Nacht"). In ihnen lebte Kraus' "Theater der Dichtung", das Erstehen des Dramas aus dem bloßen Wort, wieder auf. Alle diese Theaterversuche des Exils standen - für Schauspieler, Autor, Regisseur und Publikum - unausgesprochen in einem Spannungsverhältnis zu den Aufgaben, die sich mit der absehbar gewordenen Rückkehr nach Europa ergaben. Doch hat Viertel keine Gelegenheit erhalten, ein Stück Brechts im deutschsprachigen Raum zu inszenieren. Das in Zürich 1948 mit Brecht erwogene Projekt, in Salzburg - bei den Festspielen und am Landestheater - zusammenzuarbeiten - scheiterte. Die am Burgtheater in Wien geplante Aufführung von "Der kaukasische Kreidekreis" kam wegen der Kalten Kriegs-Stimmung und dem vor allem von Friedrich Torberg und Hans Weigel betriebenen "Brecht-Boykott" nicht zustande.

Im November 1939 notierte Viertel (er hielt sich in Salka Viertels Haus in Santa Monica bei Hollywood auf):

"Die Zeit ist gekommen, um uns in menschlichen Kollektiverscheinungen zu belehren. Eine schmerzhafte Lehre für uns Abkommen des Individualismus ..."

Gemeint war damit einerseits die Überwältigung des Individuums durch das historische Geschehen, welches als Naturkatastrophe ins Unverbindliche zu rücken Viertel sich weigerte. Die scheinbare Selbstständigkeit der Existenz des Individuums hatte ja nur auf dem vorübergehenden Gleichbleiben der Lebensumstände, der relativen Sicherheit der Verkehrsverhältnisse und der fast unbewussten Eingewöhnung in sie beruht. Wohl hatte der Gegensatz von Individuum und Kollektiv beunruhigt, doch schien es eine Frage der reinen Entscheidung zu sein, auf welche Seite man sich stellte. Andererseits kam Viertel zu der Erkenntnis, dass Widerstand gegen den "Fascismus" nur im Zusammenschluss mit Gleichgesinnten, im Herauskristallisieren eines neuen "Wir" Zukunft haben werde. In der Gemeinschaft der Exilierten - wie flüchtig, konfliktreich und gegen jede Störung anfällig diese immer war - löste sich der alte Gegensatz von Individuum und Kollektiv auf, begriff sich Viertel mehr und mehr als tätige Persönlichkeit, die der gemeinsamen Sache nicht durch Selbstpreisgabe dienen konnte. Er wurde sich, indem er sich mit all jenen, die gegen Hitler, Franco und Mussolini ankämpften, solidarisierte und seinen eigenen - geringen - Beitrag in diesem Kampf leisten wollte, der Besonderheiten des eigenen Daseins, des "Typus", dem er angehörte, erst wirklich bewusst: so seiner jüdischen Herkunft (z. B. im Gedicht: "Der Judenknabe", "Graue Tuch", 279)seiner Geprägtheit durch das Wien der Jahrhundertwende, seiner spezifischen Menschenfreundlichkeit, aber auch des Gefühls vielfältiger Verluste, wie dies im Gedicht "Lebensgang" angesprochen wird.

Viertel, Berthold: Der Judenknabe (Gedicht) zeigen
Viertel, Berthold: Lebensgang (Gedicht) zeigen

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